Irrweg Schluss mit den Mythen von 68!

  • von Hans-Ulrich Jörges
Die vermeintlich Antiautoritären waren politisch totalitär. Sie haben nicht der Freiheit den Weg gebahnt, sondern dem terror und staatlicher Unterdrückung.

Mit der eigenen Vergangenheit und der eigenen Generation abzurechnen ist keine einfache Sache. Aber es muss sein. Denn ich kann sie nicht mehr lesen und nicht mehr hören, all die Mythen, den Kitsch und die Schönfärbereien über die 68er, die dieser Tage unters ahnungslose Jung-Volk gebracht werden. Überwiegend übrigens von Möchtegernrevoluzzern, die sich heute in Heldenpose gefallen, damals aber zu jung waren oder nicht an den Brennpunkten der Ereignisse, um als glaubwürdige Zeitzeugen durchgehen zu können. Die an irgendeiner Provinzpenne vor dem erbleichenden Lehrer einmal mutig das Mathe- Heft auf den Tisch knallten oder - wie eine solche Runde im „Spiegel“ zum Besten gab - sich von einem "aufrührerischen Alt-Juso" (Ach ja, waren die Jusos 68er? Zum Totlachen!) nackt "an den Schwanz" fassen ließen.

Nur wenige von denen, die wirklich dabei waren, bringen heute den Mut auf, zu sagen, was war - und sich zu den Irrtümern des Aufruhrs zu bekennen. Daniel Cohn-Bendit ist so einer. Er benennt etwa die Mitverantwortung der Studentenbewegung für den deutschen Terrorismus. Andere verwischen oder vertuschen lieber. Oder maßen sich eine historische Kontinuität an, die ihnen nicht zusteht. Etwa Joschka Fischer, der sich in sein Außenminister-Büro ein Willy- Brandt-Bild von Andy Warhol hängen ließ. Brandt – der galt damals in der Bewegung als völlig abseits, jenseits der Barrikaden. Ich habe 1968 und die folgenden Jahre erlebt als schreienden Widerspruch zwischen persönlicher Befreiung und politischem Totalitarismus. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das zweite erkannt habe. Dann aber klar und endgültig. Ich habe die Unruhen des Jahres 1968 in Frankfurt am Main noch als Pennäler erlebt und wurde dann 1969 durch einen Schulstreik politisiert, den ein 68er, von der Uni ausgesandt, an meinem Gymnasium anzettelte. Nie zuvor hatte ich eine öffentliche Rede gehalten, da tat ich’s, wurde in den Streikrat gewählt und trug den Protest in die anderen Gymnasien der Stadt. Es war eine rauschhafte Erfahrung, Wochen glückstaumelnder Freiheit. Befreiung vom spießigen Elternhaus, Befreiung von der bedrückenden Aussicht auf eine bürgerliche Karriere. Stattdessen Wohngemeinschaft ohne jeden Privatbesitz, Haschisch satt, freier Sex - und Rock’n’Roll bis morgens um vier.

Die Geburtsstunde des Terrorismus

Damit einher ging politische Radikalisierung. Marx und Engels in Selbstschulung, Kritik und Selbstkritik als Psycho-Kult, "Macht kaputt, was euch kaputt macht" auf dem Plattenspieler, Kriegsdienstverweigerung als moralische Pflicht - und eine rasante Eskalation der Gewalt auf den Straßen. Ich habe erlebt, wie naiv-friedliche Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg von der Polizei auseinandergeknüppelt wurden. Blutige Köpfe, panische Flucht. Und Furcht - vor dem, was wir für den Faschismus unserer Tage hielten, die Nachgeburt des Faschismus unserer Eltern. Nächte voller Schlachtenlärm sind mir in Erinnerung, irrwitzige Jagdszenen der Polizei, stundenlange Hetze durch Gassen und Häuser. Am Ende stemmte ich auch Pflaster auf, warf Steine, zertrümmerte Scheiben im amerikanischen Generalkonsulat - und wurde von einem Polizisten mit gezogener Pistole verfolgt ("Stehen bleiben oder ich schieße!"), als ich nächtens Plakate der amerikanischen Black Panther Party klebte, auch an den Schaukasten meiner ehemaligen Tanzschule. Freiheit, Wut und Angst waren die beherrschenden Gefühle jener Jahre. Gegen die Polizeiknüppel schützte man sich anfangs mit Bauhelmen auf dem Kopf, Stufe eins der Eskalation. Dann zogen einige Motorradhelme auf - Stufe zwei. In der dritten Stufe gingen die, inzwischen fast militärisch geübt, zum Gegenangriff über, entwaffneten "Bullen", schlugen sie zusammen, versuchten, sie in Brand zu setzen mit Molotowcocktails. Das war auch die Geburtsstunde des Terrorismus.

Die 68er haben den Muff der Adenauer-Ära ausgetrieben und das Tor zur Liberalisierung der Gesellschaft aufgestoßen? Welcher Unsinn! Die persönliche Befreiung hat der Freiheit im Persönlichen den Weg bereitet, so weit stimmt das. Erziehung, Sexualleben, der gesamte Kulturapparat wurden nachhaltig umgestülpt. Im eigentlichen Sinne politisch aber hat sich die Bewegung schrecklich verirrt. Mit ebenso nachhaltiger Wirkung. Denn die vermeintlich Antiautoritären waren politisch totalitär, in haarsträubender Weise. Die eigene Freiheit war die Unfreiheit Andersdenkender. Wie viele wurden niedergeschrien oder kamen gar nicht erst zu Wort auf den Teach-ins und Vollversammlungen?! Rangeleien, ja Prügeleien auf den Podien, abgeschaltete Mikrofone waren keine Seltenheit. Zeittypisch die Szene, als ein drangsalierter Professor auf einer Vollversammlung von sich sagte: "Sie haben das falsche Schwein geschlachtet." Und ihm entgegengeschleudert wurde: „Aber ein Schwein war’s doch!“ Die Liberalisierung der Gesellschaft, die die 68er heute für sich reklamieren, war ja längst unterwegs, hatte schon Jahre zuvor begonnen. Willy Brandt war seit 1966 Außenminister der Großen Koalition, 1969 wurde er Kanzler der sozial-liberalen. Als Gudrun Ensslin 1968 in Frankfurt zum ersten Mal im Gefängnis saß, leitete Helga Einsele, die große liberale Reformerin des Strafvollzugs, den Knast.

Die Bewegung war auf fatale Weise deutsch

Der Kultusminister, gegen den ich beim Sternmarsch der Schulstreikenden nach Wiesbaden mit dem Ruf anrannte "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!", war der engagierte Bildungsreformer Ludwig von Friedeburg. Nicht zu vergessen: Der SDS wurde nicht etwa 1968 gegründet, er entwuchs - besser gesagt: entglitt - der SPD. Und: An den Schulen, auch an meiner, unterrichtete längst eine neue Lehrer-Generation - sie wurden nicht erst von den 68ern entnazifiziert. Schließlich, man muss es sagen, weil in rührseligen Klitterungen der gegenteilige Eindruck erweckt wird: Die Rolling Stones, The Who und Jimi Hendrix waren keine Begleiterscheinungen der 68er, sie revolutionierten seit Jahren Alltagskultur und Musik. Aus dem Schoss der Bewegung ist ganz anderes gekrochen. Die kommunistischen Gruppen und Parteien mit ihren ZKs und Politbüros, ihren Glückwunschtelegrammen an den kambodschanischen Menschenschlächter Pol Pot, ihren Delegationsreisen ins stalinistische Nordkorea. Und dem Gewaltkult der 68er entschlüpfte der Terrorismus, mit fließenden Übergängen in die legale Bewegung. Johannes Weinrich, der zum Adjutanten des Auftragsterroristen Carlos wurde, Wilfried Böse, der eine Air-France-Maschine nach Entebbe entführte und dort jüdische Passagiere selektierte, Hans-Joachim Klein, der beim Opec-Überfall in Wien dabei war, sie kamen aus der Frankfurter Szene, waren dort bekannte Figuren, bevor sie verschwanden und in die verbrecherische Tradition der Nazi-Generation rutschten, die sie einst bekämpfen wollten.

Schon im September 1967, beim SDS-Kongress in Frankfurt, trugen Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl ein "Organisationsreferat" vor, in dem vom "städtischen Guerillero" die Rede war. Als die RAF gegründet war, wurde an der Frankfurter Uni öffentlich eine Tonbandbotschaft von Ulrike Meinhof aus dem Untergrund vorgespielt. Cohn-Bendit, der in Frankreich ganz anderes ausgelöst hatte, warnte vehement davor, ihr zu folgen. Später stand Rudi Dutschke mit geballter Faust am offenen Grab des RAF-Mitbegründers Holger Meins und rief: "Holger, der Kampf geht weiter!" Er meinte: der gemeinsame Kampf, bloß mit verschiedenen Mitteln. Die Bewegung war auf fatale Weise deutsch. In der unerbittlichen Eskalation auch auf blutige Weise deutsch. Im Juni 1967 erschoss ein Berliner Polizist den Studenten Benno Ohnesorg; im Oktober 1967 deponierten Andreas Baader und Astrid Proll eine Brandbombe im Berliner Amerikahaus. Im April 1968 legten die späteren RAF-Gründer Baader und Ensslin Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern; im selben Monat wurde Dutschke in Berlin niedergeschossen. Die Unschuld, die Breite, die kultur-und sozialrevolutionäre Faszination des Cohn- Bendit’schen Mai 68 in Paris - mit Massenstreiks und der Parole "Fantasie an die Macht" - haben die Bewegung hierzulande nie erreicht. In Deutschland hat sie nicht der Freiheit den Weg gebahnt, sondern der Repression.

Wer die Zeit miterlebt hat, ist von ihr geprägt

Sie hat die Liberalisierung der Gesellschaft auf Jahre zurückgeworfen, statt sie zu beschleunigen. Die Militarisierung der Polizei, die Stärkung der Geheimdienste, die Aushöhlung der Verfassung, die Verschärfung des Strafrechts, die bleierne Zeit der Raster- und Ringfahndungen bis hin zum Deutschen Herbst 1977 mit der Entführung Hanns Martin Schleyers - all das waren Folgen der politischen Pervertierung einer Revolte, die individuell Freiheit wollte und kollektiv Unfreiheit bewirkte. Der Radikalenerlass unter der Verantwortung jenes Willy Brandt, dessen Bild sich später im Amtszimmer Joschka Fischers wiederfand, darf dabei nicht vergessen werden. Das auszublenden ist historisch unverfroren. Auch im Verdrängen, im Bemänteln, im Klein-und Schönreden sind viele 68er ihren Eltern unheimlich ähnlich. Wer die Zeit miterlebt hat, ist von ihr geprägt - so oder so -, auch die Gegner der 68er. Differenziertes Denken aber hat bis heute nicht jeder gelernt. Die eigene Befreiung, die Fähigkeit zum Widerstehen, die vielfältige Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen und persönlicher Lebensentwürfe können getrost auf der Habenseite einer historischen Bilanz verbucht werden. Politisch hingegen waren die 68er - grosso modo - der in totalitäres Denken verirrte Ausläufer eines Veränderungsprozesses, der schon vor ihnen begonnen hatte. Das ist nicht Anlass für Heldengesänge, sondern für Scham.

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