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Corona-Krise Verwirrende Zahlen und zu späte Warnungen? Das Robert Koch-Institut gerät in die Kritik

Leise Selbstkritik: RKI-Präsident Lothar Wieler (r.) und sein Vize Lars Schaade
Leise Selbstkritik: RKI-Präsident Lothar Wieler (r.) und sein Vize Lars Schaade
© Sean Gallup / Getty Images
Durcheinander bei den Fallzahlen, Kritik an späten Warnungen vor Corona: Das Robert Koch-Institut steht wie nie zuvor im Zentrum der Aufmerksamkeit - und muss sich zunehmend Fragen zu seinem Krisenmanagement stellen lassen.

Das Robert Koch-Institut blickt auf eine 129-jährige Geschichte zurück, aber wohl noch nie stand das RKI so im Fokus wie heute. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag eine Pressekonferenz, jeden Werktag ein Zahlen-Update zum Coronavirus. Die Menschen in Deutschland schauen gebannt auf die Einrichtung. Sie erhoffen sich Informationen, Aufklärung und Rat.

Das Institut mit seinem Hauptsitz in Berlin ist keine freischwebende wissenschaftliche Einrichtung, sondern eine Behörde, die dem Bundesgesundheitsminister untersteht. Ihre 1200 Mitarbeiter verfolgen laut Selbstdarstellung "das Ziel, die Bevölkerung vor Krankheiten zu schützen und ihren Gesundheitszustand zu verbessern". Unter ihrem Präsidenten Lothar Wieler sind die Mitarbeiter des Instituts in der Corona-Krise gefordert wie nie - auch von der Politik, die sich auf den Rat des RKI stützt, aber auch dessen Nimbus nutzt, um die eigene Politik zu rechtfertigen. Und laut des Textes des neu gefassten Infektionsschutzgesetzes ist das Institut nun auch "die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen".

RKI: Verwirrung um Zahlen der Coronainfizierten

Die Krise verschärft sich, der Druck auf das RKI steigt. Wer regelmäßig ein Update zur Lage der Nation herausgibt, der sollte besser keine Fehler machen. Genau hier stellen sich aber zunehmend Fragen. Immer mehr kritische Stimmen kommen auf. In den Medien aber auch in einem Teil der Fachwelt. Die "Bild"-Zeitung zählte schon auf: "So oft lag das RKI mit Prognosen daneben". Der "Spiegel" schrieb von der großen "Meldelücke". Dass ein Institut Unsicherheiten zeigen kann in diesen Zeiten, ist sicher unvermeidlich angesichts der völlig neuen Herausforderung. Doch je größer die Lage desto drängender und wichtiger auch die kritischen Nachfragen: Stimmen die Zahlen? Ist das RKI richtig vorgegangen? Hätte es nicht schon viel früher vor der Krise warnen können?

Verwirrung löste das Institut zuletzt mit den Zahlen der positiv getesteten Menschen in Deutschland aus. Regelmäßig hinkt das RKI mit seinen tagesaktuellen Bilanzen hinter der Aufstellung der Johns Hopkins University in den USA zurück. Während die Universität direkt auf Behördenangaben aus dem Internet zugreift, ist das RKI auf eine komplizierte Meldekette von den Gesundheitsämtern über die Länder angewiesen - eine Konstruktion, die das Institut selbst gar nicht zu verantworten hat. Aber nachdem am jüngsten Wochenende die Meldekette offenbar teilweise abriss und die RKI-Zahlen deshalb weiter zurückfielen, zog Präsident Wieler am Montag bereits eine vorsichtig positive Bilanz: "Wir sehen den Trend, dass sich das sich das exponentielle Wachstum etwas abflacht", sagte er. In seiner nächsten Pressekonferenz am Mittwoch wolle er dazu mehr sagen. Am Mittwoch aber klang es dann doch anders - für eine erste Bilanz sei es zu früh, sagte Wieler.

Wochenlang kamen beruhigende Botschaften aus dem RKI

Einige Kritiker meinen auch, es wäre die Aufgabe des Robert Koch-Instituts gewesen, früher vor den Gesundheitsgefahren durch Corona zu warnen. Doch als dass Virus im Januar begann, sich in China und bald auch in anderen Ländern stetig weiter zu verbreiten, sendete das Institut zunächst immer wieder beruhigende Botschaften – Botschaften, die dann teils auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verbreiten ließ.

Das Risiko für Deutschland sei trotz der Krise in China "sehr gering", versicherte Spahns Sprecher noch am 21. Januar. Der Minister selbst wiederholte diese Worte in einem Interview, das einen Tag später erschien. Die Deutschen müssten sich keine Sorgen machen, sekundierte ihm RKI-Vizepräsident Lars Schaade. Ja, es könne sein, dass einzelne Menschen infiziert in die Bundesrepublik kämen. Aber es sei unwahrscheinlich, dass sich hierzulande die Infektionsketten mit weiteren Übertragungen von Mensch zu Mensch fortsetzten, versicherte Schaade.

Zwei Tage später riegelte die Regierung in China die Millionenstadt Wuhan vollständig ab – eben weil das Virus so rasch von Mensch zu Mensch sprang.

RKI-Präsident verglich Corona mit Grippe-Epidemie

Der Virologe Alexander Kekulé regte darum bereits Ende Januar an, Flugpassagieren aus China systematisch zur Vorsicht zu raten. "Sonst kriegen wir chinesische Verhältnisse", warnte der Experte.Kekulé beklagte sich damals schon über "die Behörden" in Deutschland, die sich gegen "Maßnahmen an den Flughäfen" wendeten, weil "die normale Grippe-Infektion viel schlimmer sei".

Das war ein Seitenhieb auf das Robert-Koch-Institut. Dessen Präsident Lothar Wieler verglich am 13. Februar Covid-19 "mit einer schweren Grippeepidemie". Noch am 2. März stufte das RKI das Risiko für Deutschland von zuvor "gering bis mäßig" auf "mäßig" herauf. "Hoch" ist das Risiko aus Sicht der Behörde erst seit dem 17. März – nachdem die Länder bereits begonnen hatten, ihre Schulen zu schließen.

"Da ist wirklich eine monatelange Fehlinformation betrieben worden, die schon fast an Fake Science erinnert", kritisiert Kekulé heute: "In dem Sinne, dass man untertrieben hat, dass man dachte, man darf der Bevölkerung keine Angst machen."

Wieler übt vorsichtige Selbstkritik 

Im RKI verteidigt man sich, dass die früheren Einschätzungen "der damaligen epidemiologischen Situation" entsprachen und "keine Vorhersage" darstellten. Man habe "immer betont, dass es eine dynamische Lage ist, die sich ändern kann". Das RKI habe "die Gefahren für Deutschland frühzeitig betont", versicherte die Sprecherin des Instituts auf Fragen des stern. Aber auch Fachleuten im RKI muss da bereits bewusst gewesen sein, was der große Unterschied zur gewohnten Grippe war: Gegen sie gibt es Medikamente, man kann sich impfen lassen. Für das Coronavirus galt und gilt das nicht. Inzwischen betont auch Wieler diesen Unterschied und übte schon mal vorsichtige Selbstkritik. "Im Nachhinein" hätte man "vielleicht das eine oder andere anders gesagt", räumte er am vergangenen Freitag ein. Die Krise habe nun "ein Ausmaß, das ich mir selber nie hätte vorstellen können".

Wieler verweist auf seine Rolle "eines unabhängigen Wissenschaftlers“. Und er beruft sich auf das Team, das hinter ihm stehe. Und in der Tat hat das RKI hervorragende Fachleute. Doch geführt werde eher es wie eine deutsche Behörde, sagen Kritiker. Im Zweifel immer ein bisschen zu vorsichtig, im Zweifel immer ein bisschen zu langsam – so agiere das Institut auch in der Corona-Krise.

Bundesländer machten Druck auf Wieler

Die Kritik mag ungerecht klingen in diesen Tagen, in denen auch in dem Institut alle daran arbeiten, dass aus der Krise keine Katastrophe wird. Aber selbst unter denjenigen, für die Schuldzuweisungen jetzt zu spät kommen, kursiert eine alternative Deutung, warum Deutschland oft langsamer zu reagieren schien als Nachbarländer. Langsamer etwa als das zentralistische Frankreich – zum Beispiel bei der Schließung von Schulen. Viele sagen, der Föderalismus sei Schuld. Deshalb könne der Gesundheitsminister in Berlin leider nicht durchregieren.

Zugleich waren es in der Corona-Krise aber wiederholt die Bundesländer, die das Bundesgesundheitsministerium oder ein zögerliches RKI vor sich hertrieben. Weil Anfang März in Baden-Württemberg immer wieder aus Südtirol zurückkehrende Urlauber positiv getestet wurden, drängelte der dortige Landesgesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) persönlich Bundesminister Spahn in Berlin, dass das RKI nun endlich die Region als Risikogebiet ausweisen müsse. Am Abend des 5. März war es so weit. Einige Stunden  zuvor bekam eine Journalistin des "Südkuriers" aus Konstanz nach eigenen Angaben von der RKI-Sprecherin auf die Frage nach Südtirol noch die Antwort zu hören, solche Fragen würden unnötig Unruhe schüren. "Es ist immer irgendwann der Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung getroffen werden kann",  so wimmelte die Sprecherin die Fragerin ab.

Einige Tage später fiel der Gesundheitsbehörde in Hamburg auf, dass gehäuft Skiurlauber aus Ischgl in Tirol mit dem Virus heimkehrten. Man bitte das RKI "dringend", die Gegend zum Risikogebiet zu erklären, verbreiteten die Hamburger am 12. März. Erst am Abend des folgenden Tags stand Tirol dann wirklich auf der Liste auf der Webseite des Instituts.

Völlig neue Herausforderung für das RKI

Oder Mailand: Dort wurde der berühmte Dom am 24. Februar geschlossen. Das RKI stufte die Lombardei dennoch erst drei Tage später als Risikogebiet ein. Der Infektiologe Klaus-Dieter Zastrow war früher mal Direktor beim RKI und dann Präsident des Berufsverbandes deutscher Hygieniker. Er sagt, er kenne einen Fall, in dem einem Heimkehrer aus der Region Mailand vom Gesundheitsamt zunächst der Test verweigert wurde, weil die Einstufung als Risikogebiet fehlte.

Die Corona-Krise trifft die Kulturszene schwer. Die Stiftung Stern hat nach einem Weg gesucht, schnell und unbürokratisch zu helfen und als Partner den Bundesverband Deutscher Stiftungen gewonnen, der mit einem länderübergreifenden Fonds freiberufliche Künstler und Kunstschaffende unterstützt. Jeder gespendete Euro wird verdoppelt. Wir leiten Ihre Spende weiter. IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01 BIC DEUTDEHH

Das RKI wehrt sich mit dem Verweis auf seine wissenschaftlichen Kriterien für die Einstufung von Risikogebieten: "Die Schließung einzelner Kirchen gehört nicht zu den Kriterien", schrieb die Sprecherin des Instituts auf Fragen des stern.

In den vergangenen Tagen kamen kommunikative Pannen hinzu, nicht nur im Fall der Zahlen. Zum Beispiel die Frage, wie lange die gegenwärtigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens andauern sollen. Erst musste man Wieler so verstehen, als müssten die Schutzvorkehrungen im schlimmsten Fall zwei Jahre durchgehalten werden: "Im extremen Fall bestünde diese Möglichkeit." Nachdem das einigen aufstieß, ruderte der RKI-Direktor zurück.

"Das ist keine Zeit für Dilettanten, das ist eine Zeit für Profis" – mit diesen Worten reagierte Wieler am Donnerstag auf die Kritik. Es sei eine "schwere Zeit" für das Institut, der Druck sei hoch. Jetzt müsse man erst einmal die Krise bewältigen. Danach könne man "über alles reden" und eine "Generalabrechnung" vornehmen. Auch Spahn verteidigte das RKI. In den Nachbarländern in Europa sei es hoch angesehen.

Eine Lesart ist, dass Wieler und seine Kollegen vor einer völlig neuen Herausforderung stehen - und sich eben nicht des Alarmismus schuldig machen wollten. Noch Mitte Februar priesen auch Oppositionsabgeordnete das RKI, weil es zusammen mit anderen helfe, Panikmache zu vermeiden. Auch jetzt bemüht sich die Grünen-Gesundheitspolitikerin Kordula Schulz-Asche um eine differenzierte Einschätzung: "Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt eine Bilanz ziehen müssen", sagte sie dem stern. "Niemand trägt hier irgendeine Alleinschuld." Und sie weist darauf hin, dass das Institut dem Gesundheitsministerium unterstehe und "weisungsabhängig" sei. Schulz-Asche: "Man sollte darüber diskutieren, ob man seine Unabhängigkeit stärkt."

Klar ist: Hätten das Gesundheitsministerium und das RKI die Gefahr früher ernster eingeschätzt, hätten die Bundesregierung und die Länder eher beginnen können, Schutzmasken und andere Ausrüstung für Ärzte und Pflegepersonal zu besorgen. Jetzt werden die Masken bereits knapp und sind auf dem Weltmarkt zunehmend schwer zu beschaffen. In einem Schreiben am vergangenen Freitag beklagte das Finanzministerium eine sich "weiter zuspitzende Angebotssituation" und kündigte die sehr eilige Beschaffung von Schutzausrüstung an.

Zumal das Problem in Deutschland bis heute nicht darin besteht, dass die Bürger in Panik geraten. Im Gegenteil, viele glaubten lange noch, die Warnungen vor dem Virus seien die Panikmache. Vielleicht auch, weil sie noch vor ein paar Wochen Artikel gelesen hatten, in denen ihnen unter Berufung auf das Gesundheitsministerium und das Robert-Koch-Institut versichert wurde, die Deutschen müssten sich keine Sorge machen.

Der Berliner Risikoforscher Martin Voss kritisierte das bereits Ende Februar: "Keiner will der Alarmierer sein, stattdessen warnen lieber alle vor Panik, als ob diese das eigentliche Problem sei", sagte Voss. Dabei zeige "die Forschung sehr deutlich, dass die Menschen durch eine offene Informationspolitik viel weniger verunsichert werden, als wenn immer wieder gemeldet wird, man habe alles im Griff - obwohl die Bilder längst eine andere Sprache sprechen".

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