Der Sicherheit halber treten nur Paare von entweder zwei Männern oder einem Mann und einer Frau gegeneinander an. Wer am schnellsten einen vorher bestimmten Punkt am Ende der Welt erreicht, hat gewonnen. Klingt verrückt. Ist es auch. Bis man dann um halb sieben morgens irgendwo in Groningen an einer Autobahnzufahrt steht und den viel zu müden Daumen in die Höhe streckt, leicht nach rechts geneigt. Dann ist es nur noch bescheuert.
Am Freitag, dem 4. August steige ich in den Zug von Hamburg nach Groningen, um mein Abenteuer zu beginnen. Diese Kleinstadt im Norden Hollands wirbt mit dem Slogan "Es geht nichts über Groningen" und das stimmt. Noch weiter nördlich und man fällt in die Nordsee. Schon jetzt ahne ich, dass dieser Trip der Höhepunkt meines Jahres sein wird.
Auf "Los" gehts los
Um 23.30 Uhr weiß noch keiner der 15 Teilnehmer, wo die Reise hingeht. Zwei Minuten später schwant uns Böses. Der Organisator Rudolf verkündet mit einem hämischen Grinsen, dass wir uns in Richtung, aber nur in Richtung Mittelmeer begeben müssen und dann irgendwo zwischen Marseille und Nizza einen Knick gen Nordosten machen sollen. Das Ziel heißt Aiguines und ist auf der von meiner Freundin Bianca an einer Tankstelle gekauften Karte nicht einmal eingezeichnet. Zur Erklärung: Rudolf mag Herausforderungen. Er scheute nicht davor zurück, per Anhalter durch Syrien zu fahren oder spontan nach Kenia zu fliegen, wo er sich bemühte, nur von proteinreichen Käfern zu leben.
So, oder so ähnlich, ist Rudolf. Gegen ihn sehe ich aus wie ein blasses Nordlicht. Ist auch so, und deshalb nehme ich es ihm nicht übel, dass er einen Ort in Südfrankreich gewählt hat, denn dann werde ich zumindest braun. Falls ich überhaupt mit meinen Partnern ankomme. Zu meinem Mittramper Bart hat sich seine Schwester Bianca gesellt, deren Partner abgesprungen ist.
Zwei unserer Rivalen sind der lange Laurens und die schöne Kiko. Rivalen deshalb, weil wir abgemacht haben, zur selben Zeit am selben Ort zu starten. Da ist es eine Frage des Charmes, wer die erste Mitfahrgelegenheit bekommt. Ich rechne meinem Team gute Chancen aus.
Laurens wird dazu verdonnert, die Hälfte von Biancas Sachen mitzunehmen, denn Laurens denkt, dass ihm ein Zelt im Wert von 13 Euro und ein Kinderrucksack für eine Woche Südfrankreich genügen. Er hat also noch Kapazitäten als Packesel. Ich bin froh, nicht mit ihm fahren zu müssen, denn ich befürchte, er wird irgendwann ganz schön stinken. Was kann schon in so einen Rucksack passen? Arme Kiko. Samstag, 5. August, sieben Uhr. Bart, Bianca, Kiko und ich stehen am offiziellen "Liftplaats". Das ist niederländisch für "Zerr mich hier in dein Auto und entführe mich" - zumindest in der Fantasie meiner Mutter. Es ist eine Stelle an der Autobahnzufahrt zur A 28, an dem man offiziell eingesammelt werden darf.
Wir erkennen schnell, dass man am Anfang eines "Hitchhiking-Trips" vor allem Geduld braucht. Um sieben Uhr morgens sind die wenigsten Leute dazu bereit, drei mit gelben Per-Anhalter-Wettbewerb-T-Shirts ausgestattete Studenten mit geschätzten neun Kubikmetern Gepäck in ihr gerade gewaschenes und gesaugtes Auto einzuladen. Also testen wir die beste Haltung der kunstvoll gefertigten Pappschilder, die auf der einen Seite die Utopie beschreiben - Frankreich - und auf der anderen Seite das nächst beste realistische Ziel - Zwolle/Amersfoort, ein wichtiger Autobahnknotenpunkt im Norden des Landes.
On the road
Oh Wunder! Unser Trio hat die Groninger Mitstreiter zurückgelassen und landet um neun Uhr an einer Tankstelle Richtung Assen, immer noch an der A 28. Der Besitzer gibt uns unmißverständlich zu verstehen, dass wir verschwinden sollen und glücklicherweise fährt schnell unsere Rettung heran. Unsere erste echte Mitfahrgelegenheit in Richtung Süden. Wer sagt's denn. Hauptsache weiter runter nach Belgien, dann nach Frankreich, dann ans Ziel. Ganz einfach. Spiel, Satz und Sieg.
Mehrere hundert Kilometer und zwei Mitfahrgelegenheiten weiter liebäugele ich mit einem orangen VW-Bus: viel Platz, nettes Gefährt, alternativer Typ, somit ein geeigneter Chauffeur. Wir müssen Martin aus Bern nur kurz bequatschen, bis er uns mitnimmt. Bianca und ich machen es uns auf der Rückbank bequem, strecken die Beine aus. Als Martin dann auch noch den richtigen Griff in seine CD-Sammlung tut, genieße ich den Augenblick und döse ein. Die Gastfreundschaft von VW-Bussen und ihren Fahrern ist seither unbestritten.
Ein Volkswagen wie ein Schweizer Käse
Martins Bus ist zwar nicht sonderlich schnell, dafür ist er aber cool. Es tut mir fast leid, als wir um 17.40 Uhr an einer Tankstelle bei Metz raus gelassen werden. Nicht zu fassen, wir sind tatsächlich in Frankreich und der Tag ist noch nicht einmal rum! Zig LKW lachen uns an. Uns ist zwar bewusst, dass wir damit nicht zügig vorankommen, aber unser Ehrgeiz reicht noch nicht aus, tatsächlich den Sieg anzupeilen.
Nachdem uns einige der Trucker erklärt haben, dass sie frühestens um 19.00 Uhr weiterfahren dürfen, stoßen wir auf Henry. Henry ist noch cooler als VW-Bus-Martin. Er fackelt nicht lange und bietet uns seinen Truck an. Eigentlich darf er ja nicht, aber "f***it, damn gendarmerie. Bastards all of'em." Also steigen wir ein und bereichern unseren englischen Wortschatz mit irischen Fluch-Tiraden.
Bitte nicht umbringen
Fluchen ist Henrys Lieblingsbeschäftigung: Alle Polizisten sind Schweine, ausgenommen die netten. Ja, auch in Deutschland gebe es nette Polizisten. Sie sollen sogar fair sein. An den Franzosen lässt Henry kein gutes Haar und als wir auf Engländer zu sprechen kommen, habe ich das Gefühl, ich werde meine Ohren niemals wieder als unschuldig bezeichnen können. "Holy shit, them pricks. Darn pricks." Wir können uns ein breites Grinsen nicht verkneifen und stimmen ein in den Erguss von Schimpfwörtern. Fühlt sich gut an, denn wir wissen ja, keiner wird es weitererzählen.
Henry transportiert Blumen nach Barcelona und uns nach Mâcon. Er scheint sich wohl zu fühlen mit uns, denn als er um 23.30 Uhr in Mâcon anhält, um zu schlafen, bietet er uns an, uns am nächsten Morgen bis Orange mitzunehmen. Natürlich sagen wir ja. Schlafen ist zwar nicht gut für den Sieg, für die Augen dagegen umso mehr. Außerdem haben wir das Gefühl, dass Henry uns noch viel zu erzählen hat. Wir stellen unser Zelt neben zwei polnischen Trampern auf, die uns kurz zurufen, dass wir sie bitte nicht im Schlaf umbringen sollen. Dito.
Am Sonntag um 9:30 Uhr verlassen wir nach einer tropfenden Dusche und einem sehr kontinentalen Frühstück den Rastplatz und machen uns auf nach Orange. Ich mache es mir neben Bianca auf Henrys Schlafplatz bequem und bekomme so gar nicht mit, was Bianca und Bart da alles aus ihm rauskitzeln: Henry erzählt gut gelaunt, dass er in den 80er Jahren mit der IRA sympathisierte und großzügig Sprengstoff für die Rebellen schmuggelte.
Allerdings war das, wie sich herausstellte, keine Kleinigkeit und so durfte er erstmal nicht mit seinem Truck weiterfahren. Dieses "erst mal" resultierte in einem Jahr in einem englischen Gefängnis, danach wurde er nach Irland ausgeliefert. Dort sah man keinen Anlass, seine Aktion zu verurteilen und erließ ihm die restlichen vier Jahre, die er noch hätte absitzen müssen. So lautet die Legende. Das gibt Bonuspunkte. Kategorie "gefährlichster Fahrer".
Irischer Humor aus einer rauhen Männerkehle
Henry hat lauter solcher Geschichten parat und obwohl er voll und ganz unserem Klischee von einem Trucker entspricht, macht er ziemlichen Eindruck auf uns. Ein Kosmopolit mit Schlafkabine. Mein Horizont reicht inzwischen bis an den Nordpol. Das hier sind keine Ferien, das ist ein Bildungsurlaub.
Um 12.45 Uhr heißt es "Ciao Henry". Wir verabschieden uns an einer Raststätte in Orange mit der Gewissheit, ein echtes Original kennen gelernt zu haben. Jetzt geht die Suche weiter.
Dank Barts Charme finden wir fast zwei Stunden später eine blonde Schönheit, die bereitwillig ihren ganzen Krempel umpackt, um uns in ihrem Auto beherbergen zu können. Eigentlich sollte ich jetzt endlich mal vorne sitzen, da mein stetiger Schlaf die anderen beiden zwingt, immerwährenden Small Talk zu halten. Dies soll meine Strafe sein. Allerdings begnadigt Bart mich, vermutlich, weil er selber neben der schicken Schweizerin sitzen will. Männer.
Trampen wird zur olympischen Disziplin
Die schicke Schweizerin namens Daphné entpuppt sich als ehemaliges Mitglied der olympischen Fechtmannschaft. Das erklärt auch den riesigen Aufkleber auf dem VW, der so was ähnliches sagt wie "Ich wurde für die Schweizer Olympiamannschaft gesponsert". Daphné erzählt uns, dass sie vor einem Jahr das Fechten hingeschmissen hat, seitdem holt sie ihr Leben nach. Sie kommt gerade aus Ibiza und ist auf dem Weg nach St. Tropez. Ein Urlaub jagt den anderen, was für ein Leben. Ibiza hat Daphné allerdings gar nicht gefallen: Handy, Geld, Pass und, am allerschlimmsten, ihr Laptop wurden geklaut. Sie hat keinen Backup. Das erinnert mich - habe ich die Kaffeemaschine ausgestellt?
Schweinehitze
Daphné lässt uns gegen 16.00 Uhr an einer Mautstation ungefähr 80 Kilometer vom Ziel entfernt raus. Sie muss weiter nach St. Tropez, das Leben genießen. Das versuchen wir auch, allerdings ist die glühende Hitze und der Mangel an leeren Autos ein Hindernis. Krebsrot, und das nicht vor Freude, steigen wir irgendwann - die Sonne hat mein Zeitgefühl verbrannt - in den Kombi einer blonden Französin mit zwei viel zu großen verschlungenen Cs auf ihrer Sonnenbrille. Chanel wem Chanel gebührt.
Im Gegensatz zu den meisten Franzosen kann sie wenigstens ein bisschen Englisch. Am Ortsausgang lässt sie uns an einem Kreisverkehr raus. Egal wohin wir uns drehen, wir gehen in die richtige Richtung. Wir sind kurz vorm Ziel und geben noch einmal alles, um den hoffentlich letzten Lift nach Aiguines zu kriegen.
Dekorativ stelle ich mich an ein Straßenschild, Daumen hoch. Keine 15 Minuten später hält eine nette Frau, die uns gerne mitnehmen will. Als sie allerdings unser Gepäck sieht, fällt ihre Kinnlade runter. Also wieder umpacken. Ihre gerade eingekauften Pfirsiche duften nach Sommer, auf einmal strahle ich wie das Bikini-Atoll.
Wir erklären ihr, wo wir hin müssen und, Gott sei Dank, sagt sie, dass sie den Ort kennt. Sie will uns sogar zum Campingplatz bringen. Ihr Haus ist ganz in der Nähe. Später werden wir feststellen, dass die nette Französin aus Paris eine Ferienvilla mitten in den Bergen mit Blick auf den Lac St. Croix hat. Auch nicht schlecht. Wir müssen uns in den nächsten Tagen mit einem Zelt, aufgestellt auf den spitzesten Steinen der Welt, begnügen. Das ist unsere Villa. Aber unsere Aussicht auf den See ist sogar besser.
"We zijn er bijna, we zijn er bijna"
Nach einer 90-minütigen Autofahrt durch Südfrankreichs reizvolle Berglandschaft sehen wir endlich den See, den Rudolf etwa 48 Stunden zuvor mit seinem Beamer an die Wand geschmissen hat. Spätestens jetzt hat sich die Reise gelohnt. Eisblaues Wasser, das eine erfrischende Temperatur verspricht.
Jetzt ganz schnell aussteigen, bedanken, Tür zu und hochkraxeln. Unser Zeltplatz liegt in gefühlten 1175 Metern Höhe doch gerade auf diesen letzten Metern entwickeln Bart, Bianca und ich noch einmal Ehrgeiz. Vielleicht haben wir ja doch gewonnen. Los Bart, hör auf zu jammern, hoch da. Endlich oben - Enttäuschung pur. Wir sind nicht mal zweite. Sondern nur fünftes von sieben Paaren. Mensch, dabei haben wir uns doch so bemüht.
Beim Anblick der Siegestrophäe sind wir jedoch glücklich, dass Ding nicht mit zurückschleppen zu müssen. Rudolf hat sich was ganz besonderes ausgedacht: ein Bein. Zwar nur von einer Schaufensterpuppe, aber man kann sich vorstellen, welche Schwierigkeiten er auf dem Weg nach Aiguines gehabt haben muss. Einem bärtigen Fremden mit abgehacktem Bein würde ich zumindest nicht meinen Beifahrersitz anvertrauen.
Wir begrüßen alle und freuen uns darauf, bald von den Nachzüglern zu hören. Die Sonne scheint auf die Nase - und das Bein, erschöpft schmeißen wir unsere Taschen in den Sand und beginnen mit dieser wenig würdevollen Geste eine Woche "Ganz-Egal-Ich-Hab-Urlaub-Stimmung". Wir sind da.
Fazit
Nach 36 Stunden inklusive neun Stunden Schlaf auf einer Strecke von knapp 1500 Kilometern in den Autos von zwei Schweizern, drei Holländern, einem Iren und zwei Franzosen sind wir angekommen. Das war es wert. Per Anhalter fahren ist gar nicht so gefährlich, zumindest nicht, wenn man einen starken männlichen Begleiter hat. Und so schwierig, wie alle denken, ist es schon gar nicht. Man braucht nur ein wenig Geduld und Glück. Die beiden großen Gs des Anhaltertums.
Ohne die Autofahrer kommen wir nicht weit, deshalb: Nehmen Sie einfach mal einen "Hitchhiker" mit und schenken Sie sich ein paar Stunden eines kleinen Abenteurers. Mir ist auf dieser Reise klar geworden, dass man erst dann gelebt hat, wenn man mitgenommen wurde oder mitgenommen hat. Am besten beides, denn eine Hand wäscht die andere.
Und jetzt mache ich mich auf den Weg nach Hause. Ich stell meinen Daumen schon mal hoch, hab nämlich meinen Bus verpasst.