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Sportpsychiater über Depressionen Psychische Probleme im Fußball: "Alles, was dem Erfolg im Wege stehen kann, ist tabu"

Per Mertesacker WM 2006
Per Mertesacker hat mit seinem ehrlichem Interview im "Spiegel" für Aufsehen gesorgt. Darin sagte er unter anderem, nach dem WM-Aus 2006 gegen Italien (hier im Bild), erleichtert gewesen zu sein. 
© Clive Mason / Getty Images
Ängste und Depressionen sind im Profisport noch immer Tabuthemen. Warum das so ist, wie sich depressive Episoden bei Sportlern äußern und was sich in den Vereinen ändern muss, erklärt Sportpsychiater Dr. Tobias Freyer im Interview mit dem stern

Herr Dr. Freyer, Per Mertesacker hat kürzlich in einem Interview erzählt, er hätte oft Brechreiz und Durchfall vor Spielen gehabt. Ist das, was er beschrieben hat, nur Lampenfieber oder Symptom eines größeren Problems?

Per Mertesacker beschreibt typische Angstreaktionen des Körpers. Ob bei Vorträgen oder Bewerbungsgesprächen – jeder hat schon mal ähnliche Symptome verspürt. Die Symptomatik begleitet Mertesacker offenbar schon eine Weile, hat ihn aber wohl ab dem Anpfiff nicht im Match beeinträchtigt. Vielleicht gehörte das zu seinem Fokussierungsprozess auch dazu.

Was halten Sie von der Kritik an Per Mertesacker – unter anderem auch von Rekordnationalspieler Lothar Matthäus?

Mertesackers Aussage, er wäre nach dem WM-Aus 2006 froh gewesen, ist im Leistungskontext natürlich harter Tobak. Ich glaube allerdings nicht, dass er damit gutheißen wollte, ausgeschieden zu sein. Er wollte der Erleichterung Ausdruck verleihen, die er verspürt hat, nachdem der Druck abgefallen ist. Wenn man es differenzierter betrachtet, kann man diese Aussage sehr gut nachvollziehen und verstehen. Ich bin vor allem froh, dass diese Debatte angestoßen wurde. Denn es geht nicht nur um Per Mertesacker, sondern generell um psychische Belastung im Profifußball. Wir müssen uns im Profisport mehr um den Erhalt und die Förderung der seelischen Gesundheit kümmern.

Warum ist Schwäche im Fußball immer noch so ein Tabu?

Im Profisport geht es darum, alles der Leistung unterzuordnen. Das betrifft nicht nur psychische Schwächen, sondern auch körperliche. Alles, was dem Erfolg im Wege stehen kann, ist tabu. Auch körperliche Verletzungen werden so lange es geht, toleriert. Es geht darum, alles zu negieren, was den Erfolg mindern würde.

Nach einer erneuten Niederlage des HSV haben Anhänger des Vereins kürzlich Kreuze in den Rasen des Trainingsplatzes gerammt. Was macht so eine Aktion mit einem Spieler?

Der Druck, der sowieso existiert und den sich ein Sportler auch selber macht, eskaliert in solchen Momenten. Es gibt keinen Sportler im Hochleistungsbereich, der keinen Druck verspürt. Entweder, weil er zum Siegen verdammt ist, wie bei Top Klubs wie Bayern München oder dem FC Barcelona, oder weil er – wie in Hamburg – seit Jahren gegen den Abstieg spielt. Oder er spielt um eine Vertragsverlängerung. Druck gibt es immer, auch im Mittelfeld. Wenn der Druck von außen geschürt wird, leidet der Sportler umso mehr.  

Reden die Spieler untereinander über ihre Ängste?

Als Spieler spürt man, welche Mitspieler zu den sensibleren gehören. Ein Lothar Matthäus macht sich vielleicht weniger Gedanken. Im Positiven wie im Negativen. Aber ich glaube schon, dass Mertesackers Mitspielern aufgefallen ist, dass er zu den Spielern gehörte, die mehr reflektieren. Zu denen, die sich Dinge eher mal zu Herzen genommen haben. Ob ihnen die Symptomatik bekannt war, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube nicht, dass da wahllos mit Mitspielern, Betreuern und Ärzten drüber gesprochen wurde. Da ist meine Erfahrung eine andere. Es wird schon über Druck geredet, aber es geht immer um Leistungssteigerung und Performance. Es geht nie darum, dass man vor dem Druck auch mal in die Knie geht. Häufig werden körperliche Verletzungen, die für die anderen eher nachvollziehbar sind, in den Fokus gerückt. Selbst wenn dahinter eine psychische Belastung steckt.

Also wird gesagt, der Spieler pausiere ein halbes Jahr wegen einer Muskelverletzung, tatsächlich steckt aber was ganz anderes dahinter?

Zum Beispiel, ja.

Wie äußern sich psychische Krankheiten bei Leistungssportlern?

Im Leistungsbereich äußern sich Erkrankungen oft anders, als in anderen Bereichen. Typische Symptome einer Depression sind zum Beispiel eine anhaltende Traurigkeit, Interessenverlust,  Antriebs- oder Schlafstörungen - im Profisport manifestieren sich Depressionen allerdings häufig zunächst über körperliche Beschwerden. 

Hinter Leistungsminderung und dem Anhalten von muskulären Problemen kann zum Beispiel eine Depression stecken. Wichtig ist dann, genau hinzuschauen, zuzuhören, die Beschwerden einordnen zu können. Erst dann erfolgt abhängig von der Diagnose die Behandlung.

Was, glauben Sie, ist die Dunkelziffer in der Bundesliga?

Wir gehen davon aus, dass die Prävalenzraten im Profisport ungefähr gleich hoch sind wie in der allgemeinen Bevölkerung. Das hieße, dass mindestens 5 Prozent der Bundesligaspieler die Diagnosekriterien einer Depression erfüllen. Früher dachte man, die Rate wäre im Profisport niedriger. Stichwort: "Survival of the fittest" - nur wer psychisch gesund ist, schafft es in diese Leistungsdimensionen. Doch im Profisport spielen neben dem ständigen Druck noch weitere Risikofaktoren eine wichtige Rolle: frühe Trennung von der Familie, Interesseneinengung, ganz andere Sozialisierungsprozesse. 

Was ist das größte Risiko?

Viele Profisportler sind völlig heimatfern. Sie leben in einer Umgebung, wo sie niemanden kennen, eventuell nicht mal die Sprache sprechen; wo sie hingekommen sind, weil sie dort einen gut dotierten Vertrag erhalten haben, wo sie vielleicht über den Verein oder von Beratern organisiert eine Wohnung gestellt bekommen. Und da sind sie dann und sollen vor allem eins: Leistung bringen. Die Alltagsrealität abseits der heroischen Performance auf dem Platz ist oft traurig.

Können Profis, die depressiv sind, ihren Beruf überhaupt auf Dauer ausüben?

Es gibt Depressionen, die chronisch verlaufen. Da müsste man zu Recht sagen, dass diese Krankheit mit dem Beruf des Profifußballers nicht vereinbar ist. Aber diese Störungen beginnen oft so früh, dass ein Erkrankter kaum in den Profibereich gekommen wäre.

Diejenigen, die im Profisport depressiv erkranken, sind in aller Regel die episodisch Depressiven. Hier beginnen Episoden meist in Zeiten besonderer emotionaler Belastungen, wie zum Beispiel längere Verletzungspausen oder Phasen von Erfolglosigkeit oder nach dem Karriereende und klingen nach einer gewissen Zeit wieder ab. Jenseits solcher Erkrankungsepisoden ist die Leistungsfähigkeit des Betroffenen nicht eingeschränkt. Sowohl im psychischen als auch im körperlichen Bereich. Eine episodische Depression ist also sehr wohl mit dem Profisport vereinbar.

Sebastian Deisler ist ein Profi, der das Comeback nach der Erkrankung nicht geschafft hat.

Sebastian Deisler ist leider ein Beispiel dafür, dass es bestimmte Verläufe psychischer Erkrankungen gibt - wie aber übrigens bei schweren körperlichen Verletzungen auch - bei denen es trotz umfangreicher und fundierter Behandlung dann doch nicht zu einer vollständigen Wiederherstellung der Belastbarkeit kommt. Der Betroffene scheint in diesem Fall zum Entschluss gekommen zu sein, dass die Fortsetzung der Karriere mit einem gesunden Leben für ihn nicht zu vereinbaren sein würde. Dieses Beispiel macht eventuell dem ein oder anderen Angst, nach dem Motto: "Sobald ich diese Diagnose habe, bin ich sowieso raus." Aber aus fachlicher Sicht ist diese Befürchtung unbegründet.

Manuel Neuer ist da ein gutes Beispiel. Er hat eine langwierige, zehrende Verletzung. Ich frage mich, ob er während dieser langen Pause auch hinsichtlich seiner psychischen Gesundheit unterstützt wird 

Die meisten Klubs haben doch aber Mentaltrainer.

Das ist gut so, aber aus meiner Sicht in dieser Debatte nur sehr bedingt hilfreich. Mentaltrainer haben vor allem die Aufgabe und die Qualifikation, die Leistung zu stärken und die Performance zu optimieren. Es braucht aber den Dialog mit den Fachleuten, die Expertise im Erhalt und der Wiederherstellung psychischer Gesundheit haben. Und das ist unsere Aufgabe als spezialisierte Psychiater. Es würde viel bringen, wenn die Vereine, Trainer oder die Mannschaftsärzte mehr mit Sportpsychiatern sprechen würden. Schon in der Jugendförderung sollten solche Aspekte Beachtung finden. Den Dialog wünsche ich mir.

Was muss in den Vereinen passieren?

Vor ein paar Wochen haben die Verantwortlichen des SV Wehen Wiesbaden, der gerade um den Aufstieg in die Zweite Liga kämpft, proaktiv mit mir Kontakt aufgenommen. Sie haben erkannt, dass es manche Verläufe gibt, die mit den Mitteln der Traumatologie und Sportmedizin nicht ausreichend erklär- und behandelbar sind. So verstehen sie beispielsweise manchmal nicht, wieso sich bei bestimmten Spielern Verletzungspausen so lange hinziehen oder warum manche ihr Potenzial trotz eines Sportpsychologen nicht abrufen können. Deshalb wollen sie die Zusammenarbeit mit unserer Klinik systematisch forcieren. Das ist sehr fortschrittlich. Meines Wissens nach ist das der erste Profi-Verein in Deutschland, der systematisch mit einem Sportpsychiater zusammenarbeiten will und dem es darum geht, die seelische Gesundheit zu fördern und wiederherzustellen, wenn sie gefährdet ist.

Wie kann man es den Sportlern in Zukunft leichter machen?

Mein Favorit ist, ein offenes Angebot zu formulieren. Sportler, die länger als vier Wochen ausfallen, sollten sich mit einem Sportpsychiater zusammensetzen. Da sollte man schauen, ob es vielleicht andere Ursachen für anhaltende Verletzungen gibt. Oder andersrum gedacht: Ob die lange Ausfallzeit den Spieler psychisch über die Maßen belastet und man ihn behandeln muss, um seine psychische Gesundheit zu erhalten.

Manuel Neuer ist da ein gutes Beispiel. Er hat eine langwierige, zehrende Verletzung. Ich frage mich, ob er während dieser langen Pause auch hinsichtlich seiner psychischen Gesundheit unterstützt wird. In solchen Phasen ein klares Angebot zu haben und dem Spieler zu vermitteln, dass er das nutzen kann – das ist eine Struktur, die in der Zukunft entscheidend sein könnte. Und die Sportler müssen wissen, dass es kein Nachteil für sie ist, dieses Angebot auch zu nutzen.

Begeben sich viele Profis bei Ihnen in Behandlung?

Ich komme aus der Uniklinik in Freiburg, wo ich eine "Burnout-Sprechstunde für Leistungssportler" angeboten habe. Diese Sprechstunde war gut frequentiert. Aber die stationären Behandlungsfälle kann man an einer Hand abzählen. Dies ist bei guter ambulanter Betreuung aber vielleicht auch gar nicht unbedingt notwendig. Wichtig ist, dass eine gute ambulante Beratung angeboten wird. Hier in der Parkklinik Wiesbaden Schlangenbad nehmen die ambulanten Anfragen zu.

Glauben Sie an eine groß angelegte Veränderung im Fußball, wenn es darum geht, Sportler auch mental besser zu betreuen?

Ich glaube, dass das passieren wird. Aber vielleicht geschieht es jetzt ein wenig früher und schneller. So etwas muss publik gemacht werden und ein positives Beispiel sein.

Inwiefern hilft ein Interview wie das von Mertesacker?

Dass Per Mertesacker offen zu seinen Ängsten steht, hilft vielen. Auch der Suizid von Robert Enke hat etwas verändert. Denn danach haben auch wir Mediziner uns in diesem Bereich professionalisiert. In vielen Kliniken gibt es mittlerweile spezialisierte Ambulanzen. Das hat es vorher nicht gegeben. Es sind kleine Veränderungen, aber es ist ein Prozess. Die Debatte kann nur helfen. Nils Petersen vom SC Freiburg hat sich kürzlich vor die Kameras gestellt und gesagt, Fußballer führen ein reizarmes und wenig vielseitiges Leben. Intellektuell, sagte er, sei das ziemlich arm. Das sind alles kleine Mosaiksteine, die dazu führen, dass die Menschen über den Tellerrand hinausschauen.

Dr. Tobias Freyer ist Ärztlicher Direktor der Parkklinik Wiesbaden Schlangenbad und spezialisiert auf die Behandlung psychisch kranker Leistungssportler.

Per Mertesacker steht im rot-weißen Arsenal-Trikot nach Abpfiff auf dem Rasen, lächelt und applaudiert.

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