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0:0 gegen Frankreich Die Nationalelf ist vorerst runter von der Intensivstation - mehr nicht

Die deutschen Nationalspieler klatschen sich nach dem torlosen Unentschieden glücklich ab
Die deutschen Nationalspieler klatschen sich nach dem torlosen Unentschieden glücklich ab
© Federico Gambarini / DPA
Beim 0:0 gegen Frankreich zeigt die Elf von Joachim Löw mit alter Taktik das erhofft leidenschaftliche Gesicht. Doch auch der Mangel im Kader wird offenkundig - die Nationalelf ist noch lange nicht raus aus der Krise.

Der Liebesentzug muss sie hart getroffen haben. So viel Demut. Fast eingeschüchtert wirkten sie für ihre Verhältnisse. Auf eine Ehrenrunde hatten sie sich nach dem Spiel begeben, nicht dass es ein Ehrenrundenspiel gewesen wäre. 0:0 gegen den Weltmeister Frankreich daheim in der Münchner Allianz-Arena, das ist kein Ergebnis, für das man sich schämen muss, doch gar so schnell geschrumpft, dass sie sich über ein erkämpftes Unentschieden gegen den Weltmeister freuen, sind sie doch nicht. Aber Danke wollten sie sagen, dass sie, nun ja, im eigenen Land wieder Einlass erhalten hatten. Und auf die Fans zugehen, wie es ihr Teammanager Oliver Bierhoff versprochen hatte.

Die deutschen Nationalspieler klatschen sich nach dem torlosen Unentschieden glücklich ab
Die deutschen Nationalspieler klatschen sich nach dem torlosen Unentschieden glücklich ab
© Federico Gambarini / DPA

Wie ein Liebhaber kam diese Nationalmannschaft gestern Abend daher, der nach außerhäusiger Romanze wieder reuevoll an der eigenen Haustür klopft und hofft, dass ihm dort noch geöffnet wird. Es ist wahrlich kein gewöhnliches Spiel gewesen gegen Frankreich, und das nicht nur, weil der Weltmeister zu Gast war und ein neuer Wettbewerb, die Nations League, seine Taufe feierte. Nie in der Ära Löw hat ein Post-Turnier-Spiel eine vergleichbare Bedeutung erfahren. Nach Löws Selbstanklage vor einer Woche im Presseraum an gleicher Stelle im Rahmen seiner WM-Analyse galt es für den Bundestrainer samt seiner Weltmeister den Beweis zu erbringen, dass das Land zu Recht dieser Elf und ihrem Trainer eine zweite Chance gewährt. Eine uninspirierte Niederlage und Löws Projekt Neuanfang hätte eine mächtige Schieflage erfahren. Ein jeder von diesen Weltmeistern stand dieses Mal unter besonderer Beobachtung bei diesem Blut-Schweiß-und-Tränen-Test einer Elf, die nicht nur spielerisch, sondern auch in puncto Einstellung auf dem Prüfstand war.

Bewährungsauflagen der Nationalelf sind erfüllt

Die Bewährungsauflagen wurden durchaus erfüllt, so viel vornweg. Und doch stand Thomas Müller zu später Stunde im Bauch des Stadions und klang so gar nicht wie der freche Müller, sondern ehrlich erleichtert, als er resümierte: "Für uns ging es heute erst einmal darum, dass wir einen Schritt auf die Fußball-Nation zumachen. Das ist uns gelungen." Er müsse "erst einmal verarbeiten, was heute passiert ist. Das war kein gewöhnliches Spiel für uns." Ein mattes Lächeln huschte danach über Müllers Gesicht, vor allem aber war da nichts als Müdigkeit.

Er hatte ein ansprechendes Spiel gezeigt, zumindest in Sachen Einsatz. Das letzte wirklich starke Länderspiel liegt ja auch bei ihm ein gutes Weilchen zurück. Doch Löw hatte ihn nicht fallen lassen, wie er außer bei Sami Khedira bei keinem seiner Weltmeister von 2014 bereit war, populistische Entscheidungen zu treffen. Groß waren bei manchem ja die Zweifel, ob Müller und mit ihm Hummels, Boateng oder Kroos wirklich die richtigen Figuren für den Neuanfang sein würden.

Erst in einigen Monaten wird die Frage eine profunde Antwort erhalten können. Was sich gegen Frankreich zweifelsfrei zeigte, war indes, dass die Arrivierten sich wirklich für sich und ihren Boss ins Zeug legten. Und dass ein jeder von ihnen noch immer erweiterte Weltklasse verkörpert, die sich nicht ohne weiteres ersetzen lässt.

Löw greift auf die WM-Taktik von 2014 zurück

Engagiert ging diese Nationalmannschaft von Beginn an zu Werke und das Publikum honorierte es mit dankbarem Applaus, obgleich es lange ohne zwingende Torchancen auskommen musste. Denn wie er bereits angekündigt hatte, modifizierte Löw seine Taktik nach der Bruchlandung in Russland mit seinem ballbesitzorientierten Ansatz. Der besten Kontermannschaft der Welt die eigene Spielhälfte zu räumen, wäre in jeder Hinsicht einem sportlichen Suizid gleichgekommen.

So kam Löw am Ende bei der Suche nach einer tragfähigen Spielausrichtung gegen eine tief stehende Kontermannschaft in der eigenen glorreichen Vergangenheit an. Die WM-Taktik von 2014 zog Löw aus seinem Taktikbuch, um sie noch einmal zu recyceln. Bereits in der Vorwoche hatte er den damaligen Ansatz als "goldene Mitte" in der Balance zwischen Angriff und Torsicherung bezeichnet. Also reanimierte Löw die sogenannte Ochsenabwehr, immerhin drei der Ochsen gehörten ja bereits in Brasilien dem Kader an. Die Weltmeister-Innenverteidigung Hummels-Boateng komplettierten nun Antonio Rüdiger (FC Chelsea) als linker Außenverteidiger und Matthias Ginter (Borussia Mönchengladbach) rechts. Vier Innenverteidiger auf einer Linie, das sollte zunächst einmal genug Absicherung sein. Die bei der Weltmeisterschaft 2018 viel zu hoch postierten Außenverteidiger würde es gegen die Franzosen nicht geben, so viel war gewiss. "Frankreich hatte mit seinen beiden offensiven Außenverteidigern eine enorme Kraft nach vorne, das war heute das Richtige", bilanzierte Löw nach der Partie zufrieden.

Joachim Löw Oliver Bierhoff auf PK

Im Vollsprint vor die Viererkette

Weil auch Thomas Müller, Toni Kroos und selbst Timo Werner im von Löw erwählten 4-3-3 nach Ballverlust im Vollsprint vor die Viererkette rückten und im Kollektiv resolut bei Ballverlust pressten, vermochten die Deutschen tatsächlich wieder einmal die Schleusen zu schließen gegen eine der schnellsten Mannschaften der Welt um den unerhört starken Kylian Mbappé.

Die Konsequenzen ertrugt das Publikum ohne zu murren. Es mochte nicht immer dem Auge schmeicheln, Antonio Rüdiger beim verzweifelten Versuch beizuwohnen, wie er auf der Außenbahn die Offensive ohne das technische Rüstzeug anzukurbeln versuchte. Auch der so kantige Ginter tat sich bisweilen schwer. Doch eine Mentalitätsmannschaft stand da auf dem Feld. Sie mochte keinen Glanz verströmen, doch verbissen verteidigte sie das eigene Tor, wie es Löw ihr befohlen hatte. "Wir waren über das Spiel hinweg gut organisiert. Jeder einzelne Spieler ist an die Grenzen gegangen. Die Tugenden waren zu spüren", bilanzierte Löw deshalb zu Recht zufrieden. Wie ein Deutschlehrer alter Schule hämmerte er zu später Stunde die Lernziele in den kinogroßen Medien-Saal: Stabilität in der Defensive, Zweikämpfe annehmen, kompakt stehen, darauf sei es heute angekommen. Seine Deutschen waren dieses Mal eklig zu spielen gewesen, wie es so schön heißt. Löw darf dies als kleinen Sieg in eigener Sache verbuchen. Seine Spieler wollten nicht nur sich helfen, sie wollten auch ihm etwas zurück geben.

Am Ende würde die Elf tatsächlich immer wieder gegen müde Franzosen über den Kampf zu Chancen finden, ein später Hinweis in eigener Sache, warum es in Russland ohne Feuer und Leidenschaft nicht gelingen konnte. Keine Spur von Schlendrian war bei Löws Elf zu spüren. Keine Spur von Überheblichkeit. Und es gab ja durchaus eine kleine Neuentdeckung zu feiern. Ein ordentliches Spiel zeigte der von der Außenverteidigung kurzerhand  ins defensive Mittelfeld zurück entsandte Joshua Kimmich, die Position seiner Jugendzeit. Positionstreu agierte er und ging vor allem auch dem defensiven Zweikampf nicht aus dem Weg, zwei Merkmale, die seine Vorgänger zuletzt nur bedingt beherzigten. Sein generell eher sicheres Passspiel beruhigte auch die eigenen Aktionen, wenn auch der Weltmeister in des Gegners Hälfe kaum einmal Druck auf den Ball entfachte. Kimmich dürfte als Sechser wiederkommen, so viel scheint gewiss.

Auch die Probleme sind offensichtlich

Und doch trug der Abend von München auch bereits den Mangel von morgen zur Schau, und dieses Mal war es nicht der Bundestrainer, der ihn verursacht hatte. Denn die Zeiten, da Löw bei der Modellierung dieser Elf aus dem Vollen schöpfen konnte, sind erst einmal vorbei. Wer sein Team gegen Frankreich durchging, der fand überall Akteure, die zweckentfremdet wurden, um Löcher in Löws Auswahl zu stopfen. Denn der kantige Ginter wird nie den Offensivansprüchen eines gelernten Außenverteidigers genügen, genauso wenig wie Rüdiger. Kimmich wird als zukünftiger Sechser auf der rechten Außenbahn eine Lücke hinterlassen. Nicht einmal im eigenen Verein spielt er im Zentrum, sondern rechts.

Marco Reus wird immer eher eine Verlegenheitsspitze bleiben. Der von Löw so geschätzte Julian Draxler kämpft bei Paris St. Germain um seine Zukunft, der wieder berufene Flügeldribbler Leroy Sane stand zuletzt bei Manchester City nicht einmal im Kader. Julian Brandt ist noch weit davon entfernt, im offensiven Mittelfeld zu einer echten Größe zu werden. Im Sturm fehlt es an allen Ecken und Enden an Alternativen.

Gegen Peru am Sonntag in Sinsheim werden die Deutschen das Spiel gestalten müssen. Löw wird offensiver agieren lassen. Nur hinten drinstehen, das wird ihm das Publikum nicht verzeihen. Peru ist nicht Frankreich. Man darf gespannt sein, wie viel Risiko Löw seine Elf gehen lässt. Noch immer fehlt ein überzeugender Sieg, um diese Elf und ihren Trainer final von der Intensivstation auf die Station zu verlegen.

Die Nationalmannschaft hat sich eine Atempause verschafft, mehr nicht, Thomas Müller gibt sich da keiner Illusion hin: "Das Spiel war vom Ergebnis her okay, das Spiel war gut.“ Kurze Pause. "Aber es war kein Heilsbringer in alle Zeiten."

tis

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