Fußball-Presseschau Überrumpelungsfußball gegen Portugal

Damit hatte niemand nicht gerechnet: Deutschland zeigt nach einem Systemwechsel sein bestes Spiel in diesem Turnier und schlägt den Favoriten Portugal mit 3:2. Mannschaft und Trainer sind rehabilitiert. stern.de und "indirekter freistoß" blicken in die Gazetten.

Michael Horeni (Frankfurter Allgemeine Zeitung) erkennt die deutsche Mannschaft nicht wieder und macht die Systemumstellung für den Umschwung verantwortlich: "Das deutsche Team lebt - und Deutschland bebt. Mit Herz, Verstand, Leidenschaft und enormem Trainermut hat die Nationalmannschaft das Halbfinale erreicht. Beim beeindruckenden 3:2-Triumph gegen Portugal vollzogen Joachim Löw und seine Mannschaft eine spektakuläre Wende, die von so vielen Fans erhofft, aber in dieser Weise kaum noch zu erwarten war. In Basel war dann aber tatsächlich eine von der Turnierdynamik entfachte Wiederbelebung aller zuletzt so tief verschütteten deutschen Stärken zu bestaunen, der am Ende nicht einmal die Extrakönner aus Portugal gewachsen waren - und die aus der deutschen Mannschaft wieder eine große Nummer bei der EM machte. Das war kein Rumpelfußball mehr wie zuletzt, sondern Überrumpelungsfußball. (…) Die Notoperation am offenen Herzen seines Teams entpuppte sich ganz schnell als eine goldrichtige Entscheidung des von der Uefa auseinandergerissenen Trainerteams Löw und Flick. Es war ihr Meisterstück, aus den enttäuschenden Auftritten diesmal genau die richtigen Konsequenzen gezogen zu haben."

Quelle

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Markus Völker (tageszeitung) fügt hinzu: "Rasant, stark im Offensivspiel, ein Spiel, in dem die deutschen Spieler ihre Robustheit in den Zweikämpfen bewiesen. Die Deutschen zeigten in allen Mannschaftsteilen ihr bislang bestes Spiel im Turnier; sie agierten flexibel im Positionsspiel, es schien, als hätten sie in der Einöde von Tenero, in der sie derzeit aufeinander sitzen, nur darauf gewartet, endlich in dieser Formation zusammenzuspielen."

Jan Christian Müller (Frankfurter Rundschau)

hält die Autokorsos diesmal für angebracht: "In den Straßen der großen Städte ist inzwischen wieder der Anflug jenes Ausnahmezustands zu erleben, der den Sommer 2006 zu einem unvergesslichen gemacht hat. Aber, das sei an dieser Stelle nicht unterschlagen: Auch 2002, als sich die deutsche Mannschaft mit drei nüchternen 1:0-Siegen über Paraguay, die USA und Südkorea ins WM-Finale schlich, feierten die Menschen das Team, als wäre es überirdisch. Der Eventcharakter, den Fußballs hierzulande inzwischen verströmt, hat Qualitätsansprüche ersetzt, auch wenn das deutsche Team nicht nur sein bestes Spiel sondern auch nach absoluten Maßstäben sehr gute Qualität gegen die starken Portugiesen lieferte. Fest steht aber, dass Löw ein Team zusammengestellt hat, das auch in der Krise, in der ersten ernsthaften gemeinsamen Krise, zu einer echten Willensleistung fähig ist. Dass der Trainer wegen eines Bagatelldelikts von der herrschsüchtigen Uefa auf die Tribüne verbannt wurde, mag am Ende sogar dazu beigetragen haben, dass die Deutschen zusätzliche Kräfte frei gemacht haben. Und ihrem alten Ruf gerecht wurde: eine echte Turniermannschaft zu sein."

Claudio Catuogno (Süddeutsche Zeitung)

entdeckt Nachlässigkeiten in Portugals Abwehr: "Selten hat ein Team erst so viel Hoffnung geweckt - und ist dann so naiv am defensiven Schlendrian gescheitert. Bosingwa und Pepe etwa hätten sich ein bisschen konsequenter in den Lauf von Lukas Podolski stellen sollen, sie verzichteten darauf - und bestaunten bloß dessen scharfe Hereingabe und Schweinsteigers 1:0. Miroslav Klose ließen gleich drei so genannte Defensive in ihrem Rücken zum Kopfball aufsteigen - 2:0. Aus Kloses Kopfballtor hatten sie wenig gelernt, sonst hätten sie Michael Ballack nicht die genaue Kopie dieses Treffers gestattet. So naiv hatte sich bisher noch kein deutscher Gegner aufgestellt."

In der

Frankfurter Rundschau

lesen wir: "Bastian Schweinsteiger: Spielt liebend gern gegen den portugiesischen Torhüter Ricardo. Gegen ihn schießt er immer Tore. Aktivposten, agil, viel unterwegs, gefährlich - und das auf der rechten Seite. Bester Deutscher. Michael Ballack: immer da, wo was los war. So muss ein Kapitän sein. Musste viel rackern und kämpfen. Setzte Podolski vor dessen Flankenlauf zum 1:0 prima ein. Sehr beherzter Auftritt. Und dann war er zu Stelle, als es wirklich eng wurde: Sein Kopfball-Tor zum 3:1 war eminent wichtig. Jens Lehmann: hat sich offenbar gefangen. Hielt, was es zu halten gab, das war einiges. Wirkte sicher und souverän. Parierte vor dem 1:2 klasse gegen Ronaldo, machtlos beim Gegentor. Guter Rückhalt der nicht immer sicheren deutschen Abwehr. Simon Rolfes: couragierte Partie, immerhin seine erster Einsatz in diesem Turnier. Sollte Frings vertreten, was ihm gut gelang. Stopfte viele Löcher, spulte viele, viele Kilometer ab. Agierte so, als hätte er immer im Team gestanden. lm Spiel nach vorne Defizite. Christoph Metzelder: Was soll man da noch sagen? Zweikämpfe sind nicht seine Sache. Allenfalls lässt er sich anschießen."

Die

Süddeutsche Zeitung

schreibt: "Jens Lehmann: scheint auf dem Weg zur alten Sicherheit. Griff einige Male beherzt zu, kennt sich auch innerhalb seines Strafraums wieder besser aus. Philipp Lahm: der ideale Mann für dieses Spielsystem sowie alle anderen Spielsysteme auf der Welt. Geschickter Pressingspieler, der gerne eine Fußspitze vor dem Gegenspieler an den Ball kommt, wobei diese Fußspitze den Ball meist auch konstruktiv weiterleitet. Zog häufig empörte portugiesische Blicke auf sich und Beschwerden wegen Balldiebstahls. Vom Schiedsrichter immer freigesprochen."

Christian Eichler (FAZ) stellt die traditionellen und traditionell guten Methoden des türkischen Trainers vor: "Die ‚Kabinenansprache' oder das ‚Donnerwetter in der Pause' gehören zur Fußballfolklore, wie sie in atmosphärisch dichten Radioreportagen gern gepflegt wird. Natürlich ist das von gestern. Man weiß heute, dass pausierende Spieler für Ansprachen oder Donnerwetter nicht sehr empfänglich sind. In den EM-Kabinen 2008 geht es wohl eher zu wie beim Turnustreffen der Vertriebsabteilung: ein paar neue, der Geschäftsentwicklung angepasste Zielvorgaben; Getränke; und dann ein paar warme Worte vom Chef. Außer wenn der Chef Fatih Terim heißt. Terim hat es als bisher Einziger bei der EM geschafft, sein Team nach einem Rückstand zum Sieg zu führen. Und das gleich zweimal: 2:1 gegen die Schweiz, 3:2 gegen Tschechien. In beiden Spielen war sein Team, die Türkei, vor der Pause erschreckend schwach. Und danach erschreckend stark. Der Mann muss ein Motivator sein. Wie macht er das? Der Mitarbeiter Hamit Altintop sagte es so: ‚Er hat uns einen Arschtritt verpasst.' Es gibt Methoden aus der Vor-Klinsmann-Ära, die tatsächlich noch funktionieren. Terim ist nicht nur ein moderner Trainer, er hat auch das besondere Händchen dafür, den Türken die Leidenschaft einzutrichtern, ohne die sie auf dem Spielfeld verzagt und antriebslos wirken. Die emotionale Mittellage, das kühle Kontrollieren, wie es Kroatien beherrscht, ist ihre Sache nicht."

Klaus Hoeltzenbein (SZ)

überrascht die Form der (Ex-)Bundesliga-Spieler Josip Simunic', Robert und Niko Kovac, und warnt vor der starken Mischung Kroatiens: "Ist das Niveau dieser Europameisterschaft so niedrig, ist das Turnier gar ein Therapiezentrum, so dass Spieler dort mithalten können, die in ihrer Liga manches Laufduell im Schneckentempo bestritten und die im Zweikampf ihren Standpunkt verloren hatten? Oder ist es nicht eher so, dass derselbe Spieler unter Anleitung des einen Trainers wie Kreisklasse und unter einem anderen, beispielsweise dem heißblütigen Slaven Bilic, zumindest ein kleines bisschen wie Weltklasse aussehen kann? Wird dieser Diskurs am Beispiel Kroatiens geführt, kommt ein dritter Aspekt hinzu: Der Patriotismus, von dem diese Elf geprägt ist, die als Trikot das rot-weiße Schachbrettmuster aus dem Staatswappen, der Sahovnica, trägt. Wobei es die Kroaten inzwischen als Vorteil ansehen, dass sich ihre Auswahl fast paritätisch aus Spielern zusammensetzt, die im Inland aufgewachsen sind, und solchen, die im Ausland groß wurden. Die Ausland-Kroaten brächten eine spezielle Mentalität ins Spiel, heißt es, denn sie hätten sich als Kinder in der Fremde zu behaupten gelernt. Sie könnten zielstrebiger ins Spiel gehen als ihre Landsleute, die oft so verliebt in ihre Fußbälle, Handbälle, Tennisbälle und sogar die Wasserbälle sind, dass sie diese am liebsten nie wieder hergeben würden. Mit Josip Simunic, in Australien aufgewachsen und bei Hertha BSC als Risikofaktor gefürchtet, bilden die Kovac-Brüder eine zentrale Defensivachse, die in der Vorrunde stabil und seriös der Mannschaft Halt gab."

Elisabeth Schlammerl (FAZ)

diagnostiziert bei den Russen, Hollands Gegner im Viertelfinale, Lernfähig- und -willigkeit und schwört auf die Didaktik Guss Hiddinks: "Die russische Mannschaft hat eine erstaunliche Entwicklung hinter sich bei diesem Turnier. Der kantige, antiquierte Fußball, mit dem Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis zu dieser EM bei keinem großen Turnier mehr die Vorrunde überstanden hat, ist Vergangenheit. Moderner Fußball setzt sich auch in den Vereinen durch. Schon bei den Europapokal-Auftritten von Zenit St. Petersburg, das mit Dick Advocaat ebenfalls einen Holländer als Trainer beschäftigt, war abzusehen, dass mit den Russen künftig nicht zu spaßen sein wird. Hiddink lehrt wie Advocaat den holländischen Stil. Kein Wunder, dass die russische Nationalmannschaft wie eine noch unfertige Kopie des Oranje-Teams wirkt."

Roland Zorn (FAZ)

verabschiedet den Titelverteidiger mit einem Blick aus den Augenwinkeln: "Griechenland verabschiedete sich durch den Hinterausgang des Turniers mit einem Negativrekord. Noch kein Titelverteidiger hat es bei einer EM auf eine derart desaströse Bilanz gebracht wie die Mannschaft des Traineraltmeisters Otto Rehhagel. Drei Spiele, null Punkte, ein Tor: Wer diese Marke toppen will, muss nur noch auf das Toreschießen gänzlich verzichten. Letztlich stand Otto Rehhagels antikes Fußballtheater nicht mehr auf dem Spielplan des Fußballfestivals 2008. Letztlich wirkten die Auftritte der Karagounis, Dellas, Kyrgiakos und Basinas wie Relikte aus einer fernen Zeit - längst überholt von einer dynamischen Gegenwart, in der Handlungsgeschwindigkeit und nicht bedächtiges Ab- und Zuwarten gefragt ist. Am Ende hat sich ein Zufallschampion verabschiedet, der nur einen Sommer tanzte und danach schnell wieder zu jener Durchschnittsgröße wurde, die bei dieser Europameisterschaft keinen Platz hat."

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