Heiliger Iker vs. italienische Triebfeder
Das Finale ist auch das Duell der beiden besten Torhüter der Welt: Iker Casillas gegen Gianluigi Buffon. Beide sind seit mehr als einem Jahrzehnt die unumstrittene Nummer eins ihres Landes. Beide sind leidenschaftlich vorangehende Führungsspieler, die sich kaum Fehler erlauben, erst recht nicht in wichtigen Spielen. Und beide retteten ihrer Mannschaft bei der EM 2012 gleich mehrfach das Weiterkommen.
Die Spanier standen im letzten Gruppenspiel unter Druck, ähnlich wie Deutschland hätten sie bei einer Niederlage gegen Kroatien noch ausscheiden können. Casillas bewahrte Spanien mit einem sensationellen Reflex gegen Kroatiens Rakitic das Unentschieden und damit auch den späteren Sieg. Gegen Portugal parierte "San Iker", wie ihn die Madrider Medien nennen, im Elfmeterschießen gegen Moutinho. Auch Buffon hielt bei dieser EM sensationell, wehrte vor allem in den wichtigen K.o.-Spielen alles ab, was auf sein Tor kam - sowohl im Elfmeterschießen gegen England als auch im Halbfinale gegen Deutschland, als er starke Schüsse von Reus und Khedira parierte.
Filigranes Bollwerk vs. Anarcho-Sturm
Im Finale trifft die momentan beste Abwehr der Welt auf die beiden unberechenbarsten Stürmer des Turniers. Die spanische Abwehr um Gerard Piqué und Sergio Ramos hat in K.o.-Spielen seit über 900 Minuten kein Gegentor mehr kassiert. Zuletzt schaffte es vor allem Frankreich im Viertelfinale kaum, sich Chancen herauszuspielen. Auch Portugal kam in 120 Minuten nur zu wenigen echten Torgelegenheiten.
Italien hat bei diesem Turnier bereits unter Beweis gestellt, dass die spanische Abwehr zu knacken ist. Im ersten Gruppenspiel traf Antonio di Natale für die Azzurri. Aber auch Mario Balotelli und sein kongenialer Partner Antonio Cassano können in der Defensive des Weltmeisters Verwirrung stiften. Die beiden stehen den Innenverteidigern fast auf den Füßen und irritieren so ihre Gegenspieler. Sie folgen keinen starren Laufrouten, sondern agieren instinktiv. Überraschungsmomente könnten auch gegen die sonst so gut organisierten Spanier ein probates Mittel sein.
Kalkül vs. Leidenschaft
Im EM-Finale treffen zwei unterschiedliche Fußballphilosophien aufeinander. Die Spanier spielen immer noch ihr schnelles und traumwandlerisch sicheres Tiki-Taka. Ihr Ballbesitzfußball gründet vor allem darauf, dass sie ihre taktisch perfekt organisierten Dreiecke über den Platz verschieben - darüber ziehen sie ihr gefürchtetes Passspiel auf. Im spanischen System werden Stürmer kaum noch gebraucht. Es wird so lange gespielt, bis einer ganz frei vor dem Tor steht – so dass theoretisch jeder austauschbare Spieler nur noch den Fuß hinhalten muss. Das ist Fußball in einer beängstigenden taktischen Perfektion.
Italien repräsentiert gewissermaßen das Gegenteil. Mit ihren Fußball-Exoten Pirlo, Cassano und Balotelli spielt die Squadra Azzurra zwar längst auch Offensivfußball, doch ihre Methoden sind unorthodox. Der lange Ball von hinten heraus ist ausdrücklich erwünscht. Gewissermaßen spielt Italien einen Fußball, der schon immer funktioniert hat: Vorne zwei sehr gute Stürmer, im Mittelfeld ein Genie, einen exzellenten Torwart und darum herum viele beinharte Kämpfer – dazu die wichtigste Zutat des italienischen Erfolgs: Leidenschaft. Fertig ist der Titelkandidat. Alles zusammen macht Italien äußerst unberechenbar, denn das eine (einzige und dafür perfekte) Erfolgsrezept wie bei den Spaniern gibt es nicht.
System-Koordinator vs. Architekt
Xavi Hernandez spielte wie die gesamte spanische Mannschaft bislang keine überragende EM, aber der kleine Mittelfeldstratege vom FC Barcelona ist und bleibt das Herz des Tiki-Taka-Systems. Xavi ist die zentrale Anspiel- und Ballverteilerstation, der die Arbeit seiner kongenialen Mitstreiter im Mittelfeld - Inistea, Xabi Alonso, Busquets und Silva - koordiniert. Keiner dreht sich so schnell mit dem Ball am Fuß wie er. Er gibt Richtung, Tempo und Rhythmus der "Furia roja" vor. Ein Torjäger wird aus ihm nicht mehr. Dass er immer noch Freistöße schießt, scheint ein Rest Eitelkeit zu sein, die sich ein uneitler Typ wie er so gerade noch leistet.
Als Spieler hat Xavis italienisches Gegenüber mehr Strahlkraft. Das liegt aber auch daran, dass das komplette Spiel der Italiener auf Andrea Pirlo zugeschnitten ist. Er ist kein Koordinator eines System-Kollektivs, sondern ein Spielmacher wie es ihn schon in den siebziger Jahren gab - allerdings von der defensiven Position des Sechsers aus. So erinnert seine Frisur denn auch ein wenig an die Matte Günter Netzers. Pirlo spielt, obwohl schon 33 Jahre alt, eine geniale EM, seine Ball- und Passsicherheit sind unübertroffen. Sein Spitzname lautet Architekt - und das zu Recht. Montolivo, de Rossi und Marchisio sind seine Assistenten, die dem Meister zuarbeiten oder ihm lästige Zweikämpfe abnehmen - wobei Pirlo keine Mimose ist, sondern sich durchaus selbst durchzusetzen weiß.
Bescheidener Papa vs. gläubiger Pädagoge
Das Duell Spanien gegen Italien ist auch das Duell zweier echter Trainer-Gentlemen. Coach Vicente del Bosque ist der große Papa des spanischen Fußballs. Er gilt als ruhiger und uneitler Typ, aber auch als gewiefter Stratege, der seinem Team das Kurzpassspiel à la Barcelona verordnet hat, obwohl er ein Mann von Real Madrid ist. Als Profi war er lange Jahre für die Königlichen aktiv und auch als Trainer arbeitete del Bosque hauptsächlich für Real. Nach einer kurzen Station 1994 schaffte er 1999 erneut den Sprung zum Real-Trainer und blieb diesmal für vier Jahre. Er war der Trainer der Galaktischen, der Mannschaft von Figo, Zidane und Ronaldo, die je zweimal Meister wurde und die Champions League gewann. Der Mann versteht es also, hochklassige, mit großen Egos besetzte Fußball-Ensembles zu führen. 2010 schließlich wurde er Weltmeister - viel mehr Erfolg geht nicht. Jetzt will er mit dem Triple-Gewinn europäische Fußball-Geschichte schreiben.
Italiens Trainer Cesare Prandelli ist zehn Jahre jünger als sein Pendant. Der gläubige Katholik sei vor allem auch ein guter Lehrer, der seine Schüler mitreiße, sagte Nationalspieler Riccardo Montolivo einmal. Auf jeden Fall ist er ein Taktik-Revolutionär, der den Azzurri das gewagte und offensive Spiel beigebracht hat, ohne die traditionell starken Fähigkeiten in der Defensive zu opfern. Ein ebenso großes Kunststück ist es, dass er die beiden genialen, aber schwierigen Stürmer Antonio Cassano und Mario Balotelli zu einer funktionierenden Einheit formte. Überhaupt hat der Coach enorme Führungsqualitäten und ein perfektes Krisenmanagement bewiesen, als Wettaffäre und die schwulenfeindlichen Äußerungen Cassanos den italienischen Fußball erschütterten und zu einer Belastung für die Nationalmannschaft wurden. Jetzt will Prandelli den Lohn seiner harten Arbeit einfahren. Es ist ihm zuzutrauen.
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