Aus der Mannschaft kam kein Vorwurf, sogar die entzauberten Stars von Real Madrid äußerten Mitgefühl statt Häme - nur Franz Beckenbauer kannte kein Pardon mit dem gefallenen Helden. "Ich kann nur hoffen, dass der Oliver Kahn in Madrid so gut hält, dass er den Fehler wieder gut macht", sagte ein verärgerter "Kaiser" nach dem bösen Erwachen eines wie verwandelt aufspielenden FC Bayern München aus einer bis zum 1:1-Ausgleich wunderbaren Fußball-Nacht.
Kahn nichts wie weg
Ausgerechnet in seinem ersten Spiel nach dem Torwart-Streit mit seinem Nationalmannschafts-Rivalen Jens Lehmann leistete sich "Titan" Kahn den gröbsten Fehler in zehn Dienstjahren beim Rekordmeister. Wie ein geprügelter Hund schlich er vom Platz, pfefferte seine Torwart- Handschuhe an der Strafraumgrenze auf den Rasen, schleuderte die Kapitänsbinde zu Boden und flüchtete aus dem Olympiastadion. "Er ist direkt weg", berichtete Michael Ballack, aber auch ihn und seine Mitspieler hatte die Schrecksekunde "geschockt".
"Übernehme die volle Verantwortung"
Erst am Tag nach dem "Blackout", der fatal an den Fehlgriff im WM- Finale 2002 gegen Brasilien erinnerte, stellte sich ein nachdenklicher und trauriger Kahn den Medien und gab seinen Teamkollegen ein Versprechen für das Rückspiel in zwei Wochen: "Das Spiel in Madrid muss ich alleine gewinnen." Kahn suchte keine Ausreden für den Anfängerfehler beim 30-m-Freistoß von Roberto Carlos (83.), als er behäbig zu Boden fiel und den Ball praktisch selbst ins Netz bugsierte: "Wenn dieses Tor zum Ausscheiden führt, übernehme ich die volle Verantwortung."
Kahns Patzer schuf Raum für Spekulationen: War er nach 15 Spitzen in den lädierten Rücken wirklich fit? Oder war er verunsichert nach dem Fehler im Länderspiel gegen Kroatien und den verbalen Attacken von Lehmann? "Sicherlich muss ich mich fragen, was momentan los ist. Irgendwas scheint nicht zu stimmen», sagte er selbstkritisch. Der körperliche Verschleiß, Lehmann und die eigenen Ansprüche erzeugen womöglich einen Überdruck. "Bei mir gibt es natürlich auch Grenzen", sagte Kahn, der die Gesetze des Profi-Fußballs kennt: "In diesem Geschäft können sich innerhalb von Zehntelsekunden Welten verändern." Für das Weiterkommen ist Kahn sogar optimistisch, wenn auch mit ironischen Unterton: Die Chancen dafür stehen jetzt "sehr gut. Weil es für mich jetzt eine große Verpflichtung ist, dass wir weiterkommen."
Kahns Welt ist trotzdem vorerst aus den Fugen geraten. Und das an einem Abend, an dem die des FC Bayern vor 59 000 begeisterten Zuschauern kurz davor war, wieder heil zu werden. "Das 1:1 ist ein geschöntes Ergebnis für Real Madrid", kommentierte Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge nach der «besten Saisonleistung» (Manager Uli Hoeneß).
"Gefundenes Fressen für Jens Lehmann"
Das Bayern-Bollwerk nahm Reals «Außerirdischen» den Raum und die Lust zum Zauberfußball - bis ausgerechnet Kahn die "Königlichen" vor einer schweren Hypothek für das Rückspiel bewahrte. Lothar Matthäus legte als «Premiere»-Experte den Finger tief in die Wunde seines ehemaligen Teamkollegen. "Das ist ein gefundenes Fressen für Jens Lehmann", erklärte Matthäus und stellte zugleich das Mitgefühl der Teamkollegen mit ihrem Kapitän in Frage: "Jeder spielt für sich selbst, aber nicht für Oliver Kahn. Er hat die Mannschaft in den letzten Jahren oft kritisiert, das bleibt in den Köpfen hängen." Zum Beispiel in dieser Saison, als Kahn nach dem 0:1 gegen Schalke 04 seine Mitspieler attackierte, als er ihnen absprach, wie echte Kerle auf dem Platz aufzutreten ("Eier, wir brauchen Eier!").
Mitleid bei Real-Stars
Kahn müsse sich keine Gedanken machen, verkündete Roy Makaay, der mit seinem sechsten Champions-League-Treffer (75.) die sportliche Wiederauferstehung des FC Bayern zu vollenden schien. Luis Figo fand Kahns Schicksal "ziemlich schlimm", und sein Real-Kollege David Beckham erklärte: "Ein dummer Fehler kann jedem mal passieren."
Häme in spanischer Presse
Kein Mitleid kannte dagegen die spanische Presse mit dem Feindbild Kahn:"Danke, Alter! Ausgrechnet der alte Kahn, der gehasste, hässliche und unsympathische Feind, bereitet Real die einzige Freude des Abends", schrieb das Sportblatt "As".
Vielleicht können ein Weltklasse-Kahn und eine auch in 14 Tagen wiederum am Limit spielende Bayern-Mannschaft das "Wunder von Madrid" schaffen. "Es ist noch nichts verloren. Wir haben auch Real das Fürchten gelehrt", erklärte Trainer Ottmar Hitzfeld kämpferisch. Auch Rummenigge verbreitete Zuversicht: "Vor dem Spiel hatte ich unsere Chancen mit zehn Prozent beziffert, jetzt sind es 40 Prozent." Er glaubt weiterhin an Kahn: "Er hat uns schon so viel gewonnen, er wird uns auch das Spiel in Madrid gewinnen, davon bin ich überzeugt."