Herr Hoeneß, die Nationalelf blamierte sich in Florenz, die deutschen Klubs sind in der Champions League raus, dazu die Debatte um Jürgen Klinsmann. Haben Sie überhaupt noch Lust auf die WM?
Mehr denn je. Jetzt wird die WM realistisch. Bisher war die Erwartungshaltung ja völlig überzogen. Als ich Umfragen hörte, wonach über 60 Prozent meinten, wir würden Weltmeister, wurde mir angst und bange. Und wenn nun nur noch 15 Prozent daran glauben oder vielleicht gar keiner mehr, dann haben wir genau die Ausgangsposition, die wir alle brauchen: die Rolle des Außenseiters. Deutschland gegen Brasilien - das könnte dann so sein wie Freiburg gegen Bayern. Da stehen die Leute bedingungslos hinter ihrem Team, weil sie wissen: Sonst haben wir keine Chance.
Als Underdog sieht sich aber der dreimalige Weltmeister Deutschland partout nicht. Erst recht nicht bei einer Heim-WM.
Die Deutschen haben den Blick für die Realität verloren. Das sieht man bei Teilen unserer Wirtschaft, bei der Unsicherheit unseres Rentensystems und in anderen Bereichen. Deutschland ist eben nicht mehr überall Top. Dasselbe gilt im Fußball. In den 70er Jahren waren wir Weltklasse, in den Achtzigern waren wir wieder gut, und in den Neunzigern haben wir auch mal was gewonnen. Aber wir sind nicht mehr konstant an der Spitze. Die Gründe dafür liegen in unserer Gesellschaft: Wir sind alle zu brav, zu bequem, zu satt geworden. Und unsere Auswahl an talentierten Spielern, die nicht nur gut sind, sondern sich Tag und Nacht den Hintern aufreißen wollen, ist zu klein.
War also die Euphorie um die jungen Spieler nach dem Confed-Cup verfrüht?
Da sind Dinge vorgegaukelt worden. Unser Nachwuchs ist nicht Weltklasse. Alle hofften, die Jungen würden sich weiterentwickeln, aber wo kein Riesentalent ist, gibt es Probleme, sich weiterzuentwickeln.
Abgewatscht werden aber derzeit nicht die Spieler, abgewatscht wird Jürgen Klinsmann. Und den fordert nun auch DFB-Präsident Theo Zwanziger auf, in Deutschland präsenter, näher an der Mannschaft zu sein.
Die Verhandlungen mit dem ganzen Team um Jürgen Klinsmann sind vom DFB ziemlich naiv geführt worden, und das ist natürlich von dem gerissenen Klinsmann-Anwalt André Gross gnadenlos ausgenutzt worden. Ich kenne ihn ja, mit ihm habe ich sechs, acht Stunden verhandelt, wo ich mit anderen eine halbe Stunde gesprochen habe. Man hätte schon in den Verhandlungen klar machen müssen, dass spätestens am 1. Januar 2006 Jürgen seinen Hauptwohnsitz in Deutschland haben muss.
Im Herbst haben Sie Klinsmann heftig kritisiert, nun rufen Sie die Kollegen in der Liga zum Schulterschluss mit dem Bundestrainer auf. Woher kommt dieser Sinneswandel?
Jetzt die Pferde zu wechseln halte ich für sehr problematisch. Es ist ja nicht alles falsch, was Jürgen gemacht hat. Die Liga muss Klinsmann nun helfen, damit Deutschland eine ordentliche WM spielt. Bremen und der FC Bayern, die die meisten Nationalspieler stellen, spielen nicht mehr in der Champions League. Es ist jetzt viel leichter, ein zusätzliches Länderspiel einzuschieben. Das könnte ein Zugeständnis sein. Und die Nationalelf muss in der Vorbereitung auch nicht unbedingt mit den Frauen nach Sardinien fliegen, sondern kann stattdessen ein weiteres Testspiel machen. Wir müssen die Zeit nutzen, um ein Team einzuspielen.
Was erwarten Sie und die Liga von Jürgen Klinsmann dafür?
Ich kann an den Jürgen nur appellieren, dass er vier Dinge sofort regelt: Er muss die Wohnortdebatte beenden und mehr in Deutschland sein. Er muss sich mit Franz Beckenbauer aussprechen; wenn er Beckenbauer nicht an seiner Seite hat, wird es ganz, ganz schwierig für ihn. Er muss sich mit Christian Wörns treffen, er muss den Dortmunder nach dessen Kritik nicht in den Kader zurückholen, aber es muss ein versöhnliches Gespräch geben, damit es beim USA-Länderspiel in Dortmund nicht die ersten "Klinsmann raus"-Rufe gibt. Und er muss jetzt die Torwartfrage entscheiden. Wenn wir schon eine junge, sehr wacklige Abwehr haben, dann muss die wissen, wer hinter ihr steht. Egal, ob das Oliver Kahn oder Jens Lehmann ist. Für wen ich dabei plädiere, ist ja wohl klar. Das alles habe ich Jürgen persönlich gesagt. Er braucht diesen großen Befreiungsschlag.
Kritiker werfen Klinsmann vor, er sei beratungsresistent. Hört er denn auf Sie?
Ich glaube, er hat begriffen, dass es ein großer Unterschied ist, ob ich bei Inter spiele oder beim FC Bayern, oder ob ich Bundestrainer bin. Er hat sich immer mit dem Establishment angelegt. Jetzt aber muss er einsehen, dass Sturheit und Eigensinn keine Chance haben. Da steht ein Volk von knapp 80 Millionen Leuten dagegen, mit all den Bataillonen, die jetzt aufgefahren werden. Von der "Bild"-Zeitung bis zur "Süddeutschen". Alle. Das hält kein Mensch aus. Wie heißt es so treffend: "The forces are against him" - die Mächte sind gegen ihn.
Aber selbst ihm wohlgesinnte Menschen kommen nicht mehr an ihn heran.
Jürgen ist von Natur aus ein unglaublich misstrauischer Mensch, der hinter jedem Baum einen Feind sieht. Er hat nicht gelernt, genau zu unterscheiden, wer es wirklich gut mit ihm meint. Er hat lieber Leute um sich, die abhängig sind von ihm. Aber er muss auch das lernen: Die besten Freunde sind die, die einem kritisch gegenüberstehen, die einem ohne Rücksicht auf Verluste die Wahrheit sagen. Wenn er sich nicht nur mit seinen Beratern umgeben möchte, die mehr oder weniger Claqueure sind, dann bin ich dabei. Wenn er das nicht will, dann muss er das sagen. Und dann muss er sein Ding alleine machen.
Mit seiner Sturheit hat Klinsmann sich und das Team unter gewaltigen Druck gebracht.
Diese Mannschaft lechzt nach Führung. Er muss sie schützen, er muss für sie da sein. Er verlangt doch von den Spielern totale Aufopferung, dass sie mehr trainieren als die anderen. Aber dann muss er selbst dazu auch bereit sein.
Sonst verliert er seine Glaubwürdigkeit?
Ein Beispiel: Wir haben im Sommer unsere Spieler nach Japan geschickt. Da konnte ich auch nicht am Flieger sagen: "Servus, bis in vier Tagen." Man kann als Chef immer nur das von den anderen verlangen, was man auch selbst bereit ist zu geben Das sind Mindestansätze an Führungsqualität.
Wenn jetzt die USA nicht besiegt werden ...
Dann kommt es darauf an, wie das Spiel läuft. Die USA haben gerade 5 : 0 gegen Norwegen gewonnen. Ich bin mir nicht so sicher, dass wir denen drei Stück reinhauen. Wir können nur hoffen, dass die Mannschaft ordentlich spielt und gewinnt.
Und wenn nicht? Schließen Sie nach einer Blamage gegen die USA eine Ablösung aus?
Sagen wir es mal so: Wir müssen alle Kraft dafür einsetzen, dass der Jürgen das hinbekommt. Wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, um mit diesem Konzept bis zur WM weiterzumachen. Denn wenn das Spiel gegen die USA in die Hose geht, befürchte ich, dass es mit Sicherheit eine Riesendiskussion um Klinsmann geben wird.
Auch Bayern konnte den Ruf des deutschen Fußballs nicht retten. Sie sprechen ja gern von den 125 Millionen auf Ihrem Konto, aber einen Weltstar haben Sie nie gekauft. Und nun?
Wir werden trotzdem kein Harakiri begehen. Die Auswüchse im internationalen Fußball können ja nicht ewig so weitergehen.
Aber darauf warten Sie doch seit Jahren, dass die italienischen oder spanischen Klubs mal Pleite gehen.
Schauen Sie mal, Chelsea hat gerade 204 Millionen Euro Verlust gemacht. 204 Millionen! Barcelona spielt wunderbaren Fußball, verliert aber jedes Jahr wahnsinnig viel Geld. Real Madrid ist mit seinen Galaktischen gescheitert. Irgendwann verliert auch ein Abramowitsch die Lust, bei Chelsea seine Öl-Millionen zu verbrennen. Und dann herrscht wieder Wettbewerbsgleichheit.
Bis dahin wird Bayern aber von Milan besiegt, das einen Klassestürmer wie Schewtschenko in seinen Reihen hat. Und dazu noch den wunderbaren Kaka.
Trotzdem werden wir einen Schewtschenko, der einen Marktwert von 80 Millionen hat, nicht holen. Der macht das Gehaltsgefüge kaputt. Er weckt Begehrlichkeiten, die uns an den Rand des Ruins bringen würden. Wenn ich aufhöre, will ich einen seriös geführten Verein übergeben. Ich werde nie die Existenz des FC Bayern aufs Spiel setzen, um populistische Forderungen zu erfüllen.
Okay, dann dürfen Sie aber nicht mehr davon sprechen, die Champions League zu gewinnen.
Wissen Sie was? Das mache ich auch. Dann können wir die Champions League eben nicht gewinnen. Dann müssen wir uns mit der Meisterschaft und dem Pokal zufrieden geben und international hoffen, so weit wie möglich zu kommen. Was mich besonders ärgert, ist was anderes: Bis zum Milan-Spiel war ich der Meinung, dass wir trotzdem mit den anderen Top-Klubs ziemlich auf Augenhöhe sind. Unsere Spieler sind aber zu früh zufrieden, sie berauschen sich zu früh am Erfolg.
Und wie wollen Sie das ändern?
Wir sollten darüber nachdenken, ob wir zumindest einmal die Woche die Spieler den ganzen Tag bei uns haben. Das heißt: Morgens kommen sie zum Training, essen bei uns zu Mittag, nachmittags gibt's das Videostudium zum letzten Spiel. Ich habe nämlich das Gefühl, dass unsere Spieler kritikresistent sind. Das sind so Punkte, wo wir ansetzen müssen: Konzentrationsfähigkeit, Willensstärke, mehr Disziplin. Das alles leiste ich nur, wenn ich auch Angst vor den Vorgesetzten habe. Die müssen die Spieler wieder spüren.
Sie glauben, mit einer härteren Gangart allein spielt der FC Bayern wieder besser?
Wir sind ein Gute-Laune-Verein. Und ich bin ja einer, der gerne Spaß hat mit den Spielern. Aber seit dem Milan-Spiel fühle ich mich von der Mannschaft im Stich gelassen, sie hat mein Vertrauen missbraucht. Unser aller Vertrauen. Also müssen wir was ändern. Wären wir gegen Milan weitergekommen, hätten wir niemanden geholt. Auch keinen Ersatz für Ballack. Jetzt aber werden wir ein, zwei Spieler verpflichten, damit sich einige im Team Sorgen machen müssen um ihren Arbeitsplatz.
Interview: Giuseppe Di Grazia