Fehlentscheidungen bei der WM 2010 in Südafrika Muss jetzt der Videobeweis her?

Die Fehlentscheidungen während der WM haben die Debatte um den Videobeweis neu entfacht. Zeit, ihn einzuführen, sagt Daniel Barthold. Bloß nicht - das würde den Mythos zerstören, meint Carsten Heidböhmer.

Pro: Nie wieder ein Wembley-Tor

Zwei Spiele, zwei klare Siege: Deutschland und Argentinien stellten am Sonntag unter Beweis, dass man mit ihnen rechnen muss. Die Deutschen zerlegten England mit 4:1, die "Gauchos" überzeugten beim 3:1 gegen die Mexikaner. Trotzdem bleibt bei beiden Spielen ein fader Beigeschmack. In den Begegnungen kam es zu eklatanten Fehlentscheidungen: Den Engländern wurde ein klares Tor von Frank Lampard aberkannt, Carlos Teves traf aus eindeutiger Abseitsposition.

Der Ruf nach dem Kamerabeweis wird immer lauter. Die Fifa sprach sich zwar vermehrt gegen technische Hilfsmittel aus, obwohl diese bei Breitensportarten wie Eishockey oder Basketball gang und gäbe sind. Die Fehlentscheidungen dieser WM erfordern jedoch diese Institution beim Fußball. Bereits mehrfach gab es strittige Situationen, die Schiedsrichter nicht sahen oder falsch einschätzten. Die Technik ist schon lange soweit, dass ein Wembley-Tor wie 1966 eindeutig geklärt werden könnte. Und trotzdem fiel am Sonntag in Bloemfontein das "umgekehrte Wembley-Tor". Wieder für England, diesmal zählte der Treffer jedoch nicht.

Vorbild sollte der Rugbysport sein


So gut die deutsche Leistung auch war, das nicht anerkannte Tor für die "Three Lions" gibt erneut Anlass, ernsthaft über die Einführung des Kameranachweises nachzudenken. Vorbild sollte hier der Rugbysport sein. Mit einer beispielhaften Disziplin gehen Schiedsrichter beim Rugby mit strittigen Szenen um. Durch einen kurzen Dialog mit dem Kameraschiedsrichter auf der Tribüne, klärt der Hauptschiedsrichter fragwürdige Spielsituationen binnen Sekunden. Und: Die Spieler behandeln die Unparteiischen mit Respekt. Keine Rudelbildung, keine Beleidigungen. Getroffene Entscheidungen werden den Spielern gemäß den Regeln erklärt und von den Akteuren respektiert.

Für den beliebtesten Sport der Welt wäre diese Handhabung und die Einführung des Kameranachweises dringend erforderlich. Logistisch wie finanziell kann dies für die Fifa kein Problem sein. Man muss zudem bedenken, wie verheerend die Fehlentscheidungen für die Mannschaften sind. Es wäre nicht nur einfacher für die Schiedsrichter. Die jüngsten Fehlentscheidungen beweisen, dass ein Umdenken im Fußball stattfinden muss. Die WM-Achtelfinals vom Sonntag sprechen eine eindeutige Sprache.

Contra: Der Videobeweis zerstört den Mythos

Deutschland hat vier Mal ein WM-Finale verloren: 1966, 1982, 1986 und 2002. Doch in die Fußballhistorie ist nur die erste Niederlage eingegangen: Ein - wie man heute weiß - irregulärer Treffer hat die tapfer kämpfende deutsche Elf auf die Verliererstraße gebracht. Seither gehört der Begriff "Wembley-Tor" fest zum allgemeinen Wortschatz - nicht nur von Fußballverrückten.

Es war einer der Momente, durch die dieser Sport seine Größe gewinnt: Weil der sowjetische Linienrichter eine Fehlentscheidung traf, verloren die deutschen Spieler zwar ein Spiel - ihre Niederlage gewann jedoch mythische Größe. Vielleicht hätten sie das Spiel auch ohne Mithilfe des Schiedsrichters verloren - doch dann würde sich kaum einer mehr ihrer erinnern.

Erst durch Fehler und menschliches Versagen wird aus Fußball mehr als ein einfaches Spiel. Es wird zu einer Parabel auf das wahre Leben: Auch das ist bekanntlich nicht gerecht, und nicht jeder bekommt, was er verdient hat.

Übermaß an Überwachungstechnologien


Genau dieser Risikofaktor erhebt Fußball über andere Sportarten. Hier werden Entscheidungen noch von Menschen getroffen - und die sind nun mal fehlbar. Aber genau das macht den Reiz aus. Oder findet es wirklich jemand prickelnd, wenn nach dem 100-Meter-Lauf erst einmal die Fotos vom Zieleinlauf ausgewertet werden müssen, ehe feststeht, wer neuer Olympiasieger ist?

Die Welt leidet schon jetzt unter einem Übermaß an Überwachungstechnologien: Kameras an öffentlichen Orten, genetischer Fingerabdruck, Reisepass mit biometrischen Daten - jeder Winkel des Lebens wird ausgespäht und ausgewertet. Auch auf dem Fußballplatz kann sich kein Spieler mehr etwas Verbotenes erlauben, ohne dass es die Fernsehobjektive einfangen. Doch während der 90 Minuten Spielzeit ist die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters oberste Instanz.

Erst das Handtor machte Maradona unsterblich


Davon profitieren nicht zuletzt die Spieler. Denn auch sie gewinnen durch die Entscheidungen des Schiedsrichters an Größe. Das beste Beispiel hierfür ist Diego Maradona, der wohl beste Spieler aller Zeiten. Erinnern wir uns bei ihm als erstes an seine tollen Dribblings und seine intelligenten Pässe? Nein - es ist sein irreguläres Tor im WM-Halbfinale 1986 gegen England, das hängen geblieben ist. Weil der Schiedsrichter das offensichtliche Handspiel des Argentiniers übersah - und der seine eigene Hand frech zur "Hand Gottes" umdeklarierte -, wurde er unsterblich.

Durch den Videobeweis verliert der Sport seinen Reiz, wird ein Stück weit berechenbarer, rationaler. Und, nennen wir es ruhig beim Namen: langweiliger.

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