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Olympia-Fazit Was von den Spielen in Rio bleibt

Über die Spiele in Rio gibt es viele Geschichten: Geschichten von leeren Stadien, mangelhafter Organisation, Doping. Aber auch von ausgelassenen Fans, neu entdeckten Vierteln und einer Favela-Bewohnerin, die Gold holt. Olympia in einer Stadt der Gegensätze: ein Fazit.

Am Ende feierten die Gastgeber, als hätten sie gerade die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen. 63.000 im ausverkauften Maracana beim Finalsieg gegen Deutschland, 120 Millionen vor dem Fernseher. "Neymar, Neymar" jubelten die Massen, nachdem sie ihren millionenschweren Olympioniken eine Woche zuvor wegen schlechter Leistungen noch ausgepfiffen hatten.

So schnell wechselt die Stimmung bei diesen Spielen.

Weitere 12.000 feierten dann noch im Maracanazinho, dem "kleinen Maracana", beim Finalsiegsieg der brasilianischen Volleyballer gegen Italien. Gold im Fußball. Gold im Volleyball. Gold im Beachvolleyball. Es war so etwas wie eine späte Versöhnung Brasiliens mit seinen Sportlern.

Aber auch mit diesen Olympischen Spielen.

Waren die Brasilianer im Juli noch skeptisch – mehr als die Hälfte sprach sich gegen Rio 2016 aus – so machten die meisten aus den Olympischen Spielen schließlich eine große Party. Vor allem beim Beachvolleyball, Handball, Tennis, Turnen, Volleyball. Weniger beim Hockey, der Leichtathletik oder dem Fechten. Manchmal wirkte Olympia eher wie ein Happening als eine hochkonzentrierte Sportveranstaltung. Die Stimmung war oft genug fantastisch, wenn der Gastgeber spielte, aber die Gegner wurden auch mal ausgebuht, als handelte es sich nicht um Olympia, sondern ein Lokalderby der Fußballclubs Flamengo und Fluminense.

Ausgelassene Stimmung auf den Fanmeilen

Noch größer war die "Festa" auf den Fanmeilen. Hierher strömten alle Cariocas, Einwohner Rios, die sich keine Tickets für die Arenen leisten konnten. Sie wurden von der Stadt mit Gratiskonzerten abgespeist und mit spontanen Schulferien für die Kinder. Sie erfreuten sich dort eher an gutem Samba und Karnevalshows als an dem sportlichen Geschehen auf den Großbildschirmen. Wer sich hier länger aufhielt, erlebte eine ausgelassene Stimmung der Massen und die Wiederentdeckung des renovierten Hafenviertels. Andererseits blieben zu viele Plätze in den Olympiaarenen leer.

Man sah kaum mal schwarze Brasilianer in den Stadien, keine Armen, keine Favelabewohner. Inklusion und Toleranz mögen wichtige Mottos des IOC sein, aber sie betreffen in erster Linie Behinderte, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und sexueller Orientierung, seit neuestem auch Flüchtlinge. Ärmere Klassen bleiben ausgeschlossen.

Wenn man mit Brasilianern über ihre Spiele sprach, so waren sie in erster Linie glücklich und stolz, aber auch pessimistisch. Glücklich über die vielen Gäste in der Stadt. Stolz, dass Rio die ganze Welt zu Besuch hatte und es keine unüberwindlichen Probleme gab. Für viele bedeutete Olympia zwei Wochen Ferien von wirtschaftlicher Tristesse und Korruptionsskandalen. Umso größer wird das nun das Loch sein. Mit den Touristen gehen auch viele ausländische Organisatoren und Unternehmen. Der Staat Rio de Janeiro ist pleite. Für Schulen, Krankenhäuser bleibt jetzt schon nichts übrig.

"Schlechteste Spiele, die wir je hatten"

Es gibt viele Wahrheiten über diese 31. Olympischen Spiele. Spricht man mit deutschen Sportlern, so betonen die meisten nicht die gute Stimmung oder Freundlichkeit der Gastgeber, sondern die Defizite, den schlechten Transport, die mangelnde Hygiene. Athletensprecherin Martina Strutz sprach sogar von den "schlechtesten Spielen, die wir je hatten", bevor Funktionäre sie zurückpfiffen und darauf verwiesen, dass da wohl der Frust über die eigenen schlechten Leistungen überwog.  

Kontakt mit den Fans bekam Strutz nicht. Sie war nicht auf der Fanmeile. Von der Realität Rios hat sie wie die meisten Athleten nichts mitbekommen. Manchmal wirkten sie wie deutsche Touristen, die auf Gran Canaria eine Mücke im Zimmer finden und deswegen einen Aufstand bei der Hotelleitung machen.

Es gab aus Athletensicht durchaus berechtigte Kritik an Rio 2016. Das Olympische Dorf war nicht komplett fertig. Die Wege zu einigen Spielstätten waren weit. Goldmedaillengewinner Fabian Hambüchen zieht im Interview mit dem stern eine kritische Bilanz: "Im Vergleich zu anderen Olympischen Spielen schneidet Rio schlecht ab. Die Organisation, Hygiene, Unterbringung, Verpflegung. Das war schon grenzwertig." Sehr viel stärker aber ist seine Kritik am IOC und dem Umgang mit dem russischen Staatsdoping (zu lesen im stern am kommenden Donnerstag).

Inspirierende Momente

Die distanzierte Haltung der deutschen Athleten zu den Spielen erklärt sich auch dadurch, dass das Deutsche Haus in der hintersten Ecke Rios eingerichtet wurde. Kontakt zu den Cariocas, den Einwohnern der Stadt, gab es somit praktisch nicht. Besser machten es die Österreicher, die Franzosen, auch die Südseestaaten. Eigentlich alle Nationen. Sie setzten ihre Repräsentanzen mitten ins Leben und öffneten die Türen für die Menschen. Kein Wunder, dass Österreicher und Holländer anders über Rio 2016 richten als Deutsche.

Es gab große inspirierende Momente bei Olympia, und wer sie verneint, weiß nichts von der Power einer bewegenden Geschichte. Etwa die der lesbischen Favela-Bewohnerin Rafaela Silva, die eine Goldmedaille im Judo holte. Oder die der amerikanischen Boxerin Claressa Shields, deren Vater ihr als Mädchen das Boxen untersagt hatte. Oder die goldenen Abschiede der schon abgeschriebenen Michael Phelps und Fabian Hambüchen, der schon in Athen 2004 dabei war und nach Bronze und Silber nun schließlich auch Gold am Reck gewann. Auch Neymar fällt darunter, der nach der Tragödie bei der WM 2014 nun zum ersten Mal Gold für Brasilien im Fußball holte und aus dem Heulen nicht herauskam.

Negativer Höhepunkt war nicht Rios Gewalt oder der Zika-Virus, sondern ein amerikanischer Idiot namens Ryan Lochte und seine Lügengeschichte über einen angeblichen bewaffneten Überfall von als Polizisten verkleideten Gangstern. In dieser Story bündelte sich all die Ignoranz, Arroganz und Überheblichkeit, der die USA unter Obamas Führung acht Jahre lang entgegensteuern wollte. Von da an wurde die USA bei jedem Wettkampf ausgebuht. 

Olympia ist mehr als ein durchgestyltes Event

Was bleibt für Rio de Janeiro? Die Gewissheit der Menschen, bei allen Widrigkeiten gute Gastgeber zu sein. Eine neue U-Bahn-Linie. Ein neues Hafenviertel. Busspuren vor allem für arme Pendler. Aber auch Sportstätten, die keiner wirklich braucht. Und ein gewaltiges Loch in den Staatskassen, aus denen Lehrer, Polizisten und Pensionäre bezahlt werden müssten.

Olympische Spiele können nicht die sozialen Probleme eines Land oder einer Stadt lösen. Aber ihre Versprechen hätten die Organisatoren  einlösen müssen: Mehr Sicherheit - vor allem in den Favelas. Eine gesäuberte Bucht. Ökologische Fortschritte.

Sollten Olympische Spiele in Zukunft also nicht mehr an Städte wie Rio de Janeiro vergeben werden? Das wäre ein fatales Signal. Olympia in Südamerika wird nie so perfekt ablaufen wie in Peking 2008, London 2012 oder vermutlich in Tokio 2020. Aber Olympia ist mehr als ein durchgestyltes Event für die Erste Welt. Olympia ist im besten Fall ein Spiegel dieser bunten, unvollkommenen Welt, eines der letzten internationalen Feste, das alte Grenzen überschreitet und neue Wege versucht.

Sonst bleiben die Spiele das, was sie im Kern ohnehin schon sind: Ein Marketingtool der TV- und Werbeindustrie, wo sich die weiße globale Elite – Funktionäre, Zuschauer und Journalisten – ein gigantisches Fest bereitet.

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