Champions League Sehnsucht sticht Tradition – oder warum mein Fußballherz für RB Leipzig schlägt

Fans von RB Leipzig beim Achtelfinal-Rückspiel der Champions League
Nach 20 Jahren Fußball-Dürre haben die Fußballfans in Leipzig wieder Bock feucht-fröhliche Abende unter Flutlicht.
© Martin Rose / Bongarts / Getty Images
RB Leipzig steht im Halbfinale der Champions League. Für unseren Autor, einen mäßig begabten Kicker mit sächsischen Wurzeln, ein Feiertag. Dass sein Herz für die Roten Bullen schlägt, hat genau einen Grund. 

Als der junge Tyler Adams im fast menschenleeren Estádio José Alvalade von Lissabon die Kugel zum 2:1 für RB Leipzig in die Maschen setzt, hocke ich auf der Terrasse unseres Schrebergartens. Ich habe zwei Freunde eingeladen und wir plauschen bei Bier und Chips über dies und das. Bei der Planung des Abends war mir irgendwie durchgerutscht, dass die RB-Kicker an diesem Tag das Viertelfinale der Champions League gegen Atletico Madrid spielen. Statt das wichtigste Spiel der Klubgeschichte zu Hause auf dem Sofa zu verfolgen und mit meinen Bullen mitzufiebern, muss ich mich also mit dem Live-Ticker auf meinem Smartphone begnügen. Egal. Hat ja gepasst. Und mindestens eine Chance habe ich ja noch.

Nun fragt sich bestimmt manch einer, was genau bei mir schief gelaufen ist. Oder anders: Warum in aller Welt ich Fan von RB Leipzig bin. Dem lästigen "Brause"-Klub, der erst vor elf Jahren gegründet wurde, seit fünf Jahren die Fußball-Bundesliga aufwühlt und wie kein anderer der 18 Vereine polarisiert. Nun, um meine Sympathie für die Rasenballer verstehen zu können, muss ich etwas weiter ausholen.

Der Müller-Moment für die Ewigkeit

Es ist der Abend des 14. April 1987. Zentralstadion Leipzig. Nieselregen. Halbfinale im Europapokal der Pokalsieger. Mit einem 1:0 aus dem Hinspiel im Rücken kann Lokomotive Leipzig gegen Girondins Bordeaux vor offiziell 73.000 Zuschauern den Einzug ins Finale klar machen. Ich war damals acht Jahre alt und mein Vater einer der vermutlich mehr als 100.000 Zeugen dieses denkwürdigen Fußballspiels. Auf dem Sofa zuhause fiebere ich mit den Blau-Gelben mit – mehr als 120 Minuten lang. Rückstand schon nach 170 Sekunden; ein verschossener Strafstoß in der Verlängerung. Was für ein Drama. Und noch immer leuchten meine Augen, wenn ich daran denke und komplett euphorisiert davon erzähle, wie Lok-Torwart René Müller beim Elfmeterschießen den entscheidenden Ball mit dem rechten Fuß links oben in den Winkel drosch. "Ich hab noch nie einen Elfmeter geschossen und einfach nur dran gehaun",  kommentierte Müller seinen Siegtreffer damals lapidar.

Nur ein paar Jahre später lief ich – natürlich mächtig stolz – selbst im Trikot der "Loksche" auf den Platz. Meine Mutter hat immer davon geträumt, ihren Sohn einmal als Fußballer live im Fernsehen zu sehen. Tut mir leid, Mama. Sollte nicht sein. In der B-Jugend war Endstation. Den Fußball in meiner Stadt – der Stadt, die im VfB Leipzig vor fast 120 Jahren den ersten Deutschen Meister stellte – habe ich trotz allem nie ganz aus den Augen verloren. Kein Umzug in den Fußball-Norden, keine noch so peinliche Insolvenz, kein Abstieg in die Niederungen des Amateurfußballs haben daran etwas geändert. Chemie Leipzig, Lok Leipzig, VfB Leipzig, RB Leipzig – weder die Farben, noch das Logo auf dem Trikot spielen für mich eine Rolle. Tradition? Wer legt fest, was das ist? Ich bin mit Herz und Seele Leipziger – und Fußballfan. Fertig.

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20 Jahre Fußball-Flaute: Sehnsucht sticht Tradition

Doch zurück zu RB. Was mussten sich die Fans der Roten Bullen seit dem Aufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga nicht alles anhören. Was für Plakate mit unsäglich dummen Sprüchen in großen Stadien sogenannter Traditionsklubs lesen. Doch was die Leipziger Fußballfans, inklusive mir, anfangs noch wütend und ratlos zurückließ, ringt den meisten nun allenfalls noch ein müdes Lächeln ab. Mehr als 20 Jahre haben sie gelitten und sehnsüchtig darauf gewartet, die großen Bayern oder den BVB wieder in Leipzig spielen zu sehen. In ihrer Stadt. Dem Gründungsort des Deutschen Fußball-Bundes. Zwei Jahrzehnte lang mussten sie und eine ganze sportbegeisterte Region mit ansehen, wie die schönste Nebensache der Welt mit Füßen getreten und aufs Abstellgleis geschoben wurde. Sang- und klanglos verabschiedete sich der VfB Leipzig im Sommer 1994 nach nur einem Jahr aus der 1. Bundesliga. Danach zerfleischte sich der Fußball in der Messestadt selbst. Dass das nicht so weitergehen kann, muss Dietrich Mateschitz, der milliardenschwere Miteigentümer von Red Bull, gespürt haben. Selbstredend nicht, ohne dabei auch an sein lukratives Geschäft mit der Bullen-Brause zu denken. Und wenn schon.

Fußball-Leipzig ist wieder da, (wo es hingehört)

Mäzen Mateschitz hat die Fußballfans in Leipzig mit seinen Millionen wachgeküsst. Nun spielen neben den Bayern, Borussia Dortmund und Gladbach sogar wieder internationale Top-Klubs wie die Tottenham Hotspurs oder Olympique Lyon an der Pleiße. Übrigens genau dort, wo René Müller im April 1987 Lok Leipzig ins Europapokalfinale nach Athen schoss. Auch das ist für mich ein Stück Tradition. Fast 41.000 Zuschauer kamen in der abgelaufenen Saison zu jedem der 17 Heimspiele von RB Leipzig. Väter mit ihren Töchtern und Söhnen, Familien – und Rentner, die sich noch genau wie ich an die rauschenden Nächte im Stadion der Hunderttausend erinnern können. Die Partien der Champions League waren ausverkauft. Ein Wettbewerb, von dem in Leipzig noch vor fünf Jahren nur die kühnsten Optimisten zu träumen wagten.

Für das Achtelfinal-Rückspiel gegen die Tottenham Hotspurs bin ich aus meiner Wahlheimat Hamburg mit Trikot und Schal im Gepäck nach Leipzig gefahren. Timo Werner und seine Teamkollegen schickten die Spurs von José Mourinho mit 3:0 zurück auf die Insel. Und mir, der 33 Jahre zuvor noch auf dem Sofa mitgezittert hatte, kullerte an diesem Abend mehr als nur eine Freudenträne über die Wangen – und bestimmt war ich nicht der einzige im fußballverrückten Sachsen. 

Fußball-Leipzig ist wieder da – und könnte am Dienstag (live ab 19.30 Uhr, Sky), 33 Jahre nach der 0:1-Niederlage im Europacup-Finale gegen Ajax Amsterdam in Athen, zum ersten Mal ins Endspiel des wichtigsten Wettbewerbs im europäischen Klubfußball einziehen.

Mateschitz-Millionen klug investiert

Nein, man muss RB Leipzig nicht mögen. Doch die Fans zu verteufeln, weil sie hinter einem Team stehen, dass Fußball-Deutschland seit ein paar Jahren mit seinem mutigen, attraktiven und erfolgreichen Angriffsfußball bereichert, ist nicht akzeptabel. Ja, Mateschitz hat einige hundert Millionen nach Leipzig überwiesen. Doch das Geld allein hat RB nicht ins Halbfinale der Champions League gehievt. Im Gegensatz zu manch anderem, von kühnen, vermögenden Unternehmern gestütztem (Traditions)-Verein – nicht nur in Deutschland –, wurden die Schecks von den Sachsen klug eingesetzt, anstatt sie planlos zu verbrennen. Das mag einigen ewig gestrigen Fußballfans und selbsternannten Rettern der deutschen Fußball-Kultur ein Dorn im Auge sein. Für Leipzig und die Region war es nach 25 traurigen Fußballjahren das Beste, was passieren konnte.

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