Kollektives Aufatmen vor einer Woche in der Bundesrepublik: Gazprom nimmt die Ostseepipeline Nord Sream 1 nach zehntägiger Wartung wieder in Betrieb. Allerdings mit weniger Leistung als zuvor. Die Lieferungen werden nun halbiert, statt 40 fließen jetzt nur noch 20 Prozent der möglichen Gasmengen nach Deutschland. 1,28 Millionen Kubikmeter kommen stündlich hier an. Sparen, sparen, sparen, hieß es deshalb einmal mehr von der Bundesnetzagentur. Doch Rettung naht, und zwar durch die Transgas-Leitung, die aus Russland über die Ukraine und die Slowakei nach Deutschland und Österreich führt. Oder?
Zumindest lautete so die Nachricht, einen Tag nachdem Gazprom angekündigt hatte, die Nord-Stream-Lieferungen zu reduzieren. Nach Informationen des slowakischen Netzbetreibers Eustream hatte der russische Energieriese deutlich mehr Kapazität für die Transgas-Leitung durch die Slowakei gebucht als in den vergangenen Tagen. Im slowakischen Grenzort Velké Kapušany, dem Startpunkt des slowakischen Abschnitts, wurde die Durchleitung von 68,6 Millionen Kubikmeter Gas angemeldet. Am Vortag waren es 36,8 Millionen Kubikmeter. Zuvor hatte sich der Betreiber des ukrainischen Pipeline-Abschnitts TSOU beschwert, dass der russische Gasriese dort ohne Vorwarnung den Druck in den Leitungen erhöht habe. An der Messstation Sudscha an der ukrainisch-russischen Grenze wurden allerdings noch keine höheren Mengen durchgeleitet.
Offensichtlich nutzt Russland die Pipeline, um mehr Gas gen Westen zu pumpen. Gleicht Gazprom damit die ausgefallenen Nord Stream-Lieferungen aus? Hatte da etwa Ex-Kanzler Gerhard Schröder bei seinem jüngsten Moskau-Besuch seine Finger im Spiel? Und: Sind unsere Speicherziele von 90 Prozent im November damit wieder realistischer geworden?
Neue Gaslieferungen – und einer bleibt skeptisch
Auf die Fragen gibt es weder von Gazprom selbst, noch von der Bundesnetzagentur eine Antwort. Die Seite des russischen Energiekonzerns war nicht abrufbar, eine stern-Anfrage ließ die deutsche Tochtergesellschaft unbeantwortet. Immerhin, die Bundesnetzagentur antwortete schriftlich: "Derzeit kann eine Erhöhung der physikalischen Flüsse über die Ukraine und vor allem nach Deutschland bisher nicht bestätigt werden." Das geht auch aus dem aktuellen Lagebericht hervor. Die Station Waidhaus, die an der tschechischen Grenze an die Transgas-Pipeline angebunden ist, verzeichnet keine Zunahme der Gaslieferungen (Stand: 28. Juli 2022).
Nicht zu Unrecht blieb Netzagenturchef Klaus Müller skeptisch. "Da traue ich den ganzen Ankündigungen nicht, bis wir nicht ein paar Stunden in diesen Tag gesehen haben." Für ihn ist das Erdgas inzwischen Teil der russischen Außenpolitik und womöglich auch Teil der russischen Kriegsstrategie. Und die lebt von Überraschungen, wie die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Liana Fix bereits im Gespräch mit dem stern erklärte. "Putin liebt es, mit Überraschungen und Erwartungshaltungen zu spielen und diese nicht zu erfüllen. Damit inszeniert er sich selbst als unberechenbar."
Offensichtlich hat sich Deutschland zu früh gefreut. Die Frage ist nun: Wo bleibt das Gas? Und was hat es mit der Pipeline nun wirklich auf sich?
Zoff wegen Transgas
Transgas ist eine Leitung, die von Russland über die Ukraine in die Slowakei und nach Österreich und Deutschland führt. Sie wurde gebaut in einer Phase, in der sich die Lage zwischen Sowjetunion und dem Westen kurzzeitig entspannte. So kamen etwa die Verträge mit der österreichischen ÖMV und der deutsch-sowjetische Röhren-Vertrag zustande. Deutschland baute Erdgas-Leitungen, im Gegenzug erhielt die deutsche Thyssen-Ruhrgas Lieferungen aus der Sowjetunion. Die Trasse wurde in den 1970er Jahren geplant und in den folgenden Jahren ausgebaut.
In den 90er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, sorgte die Pipeline dann für Streitigkeiten zwischen der nun unabhängig gewordenen Ukraine und Russland. Bei dem Gasstreit ging es um die angemessene Vergütung, der Ukraine für die Durchleitung des russischen Gases. Ab 2005 reduzierte die Ukraine die durchgeleitete Menge immer wieder. Russland antwortete mit vorübergehenden Lieferstopps und alternativen Trassen. So entstanden etwa die Leitungen Jamal, die Nord-Stream-Pipelines sowie die Leitung South Stream im Schwarzen Meer.
Am österreichischen Netzpunkt Baumgarten verzeichnet die Austrian Gas Grid Management AG (AGG) von Mittwoch auf Donnerstag eine Zunahme bei den Gaslieferungen von drei Prozent. Das erklärt jedoch nicht, warum kein Gas nach Deutschland strömt. Informationen oder Hinweise darauf, dass das Gas in Tschechien, der Slowakei oder der Ukraine feststeckt, gibt es keine.
Lieferstopp für Polen und Bulgarien: Sechs Fragen und Antworten zum russischen Gas
Ist die Gasversorgung in Deutschland gesichert?
Ja und nein. Es kommt darauf an, welchen Zeitraum man betrachtet. "Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist derzeit gewährleistet", sagt die Bundesnetzagentur. "Die Einstellung von russischen Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien hat bislang keine Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit in Deutschland."
In einem Bericht des Wirtschaftsministeriums an den Bundestag vom Mittwoch ist allerdings die Rede von einer "akuten Gefahr, dass die Situation weiter eskaliert und russische Gaslieferanten ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht oder nur eingeschränkt erfüllen". Dies wäre für die Gasversorgungslage in Deutschland kurz- bis mittelfristig kritisch. Hintergrund sei die Forderung Russlands, Zahlungen in Rubel abzuwickeln, dem sich die G7-Staaten widersetzen.
Sparen, sparen, sparen ...
Das deutsche Motto heißt wohl weiterhin: sparen. Das hat in diesem Jahr gut funktioniert, wie Zahlen des Bundesverband Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zeigen. Bis Mai diesen Jahres unterschritt der Gasverbrauch mit 460 Milliarden Kilowattstunden (Mrd. kWh) den aus dem Vorjahreszeitraum um 14,3 Prozent. Der BDEW verweist allerdings darauf, dass die vergleichsweise milden Temperaturen dazu geführt hätten. "Doch auch bereinigt um Temperatureffekte lag der Gasverbrauch im laufenden Jahr 6,4 Prozent unter dem Wert des Vorjahreszeitraums", heißt es in der Pressemitteilung. Besonders deutlich sei der Rückgang im Mai gewesen. "Hier lag der Verbrauch um mehr als ein Drittel niedriger als im Mai 2021 (-34,7 Prozent). Bereinigt um Temperatureffekte beträgt das Minus noch 10,8 Prozent."
Wann in Deutschland eine Gasmangellage ausgerufen werden müsse, ist laut Netzagentur-Chef Müller unklar. Das hänge unter anderem von der Temperatur im Herbst, von den Einsparerfolgen der Industrie, den Lieferungen der Nachbarländer und der Inbetriebnahme der Flüssiggas-Terminals ab. Die Bundesregierung plant derzeit mit Einsparungen um 15 Prozent. Vielleicht seien je nach Härte des Winters auch "16 oder 20 Prozent" zu schaffen, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck. Vielleicht wird das auch dringend nötig sein, denn wer weiß, welche Überraschungen Russland noch bereithält.
Quellen:Bundesnetzagentur, BDEW, Trans Austria Gasleitung GmbH, Gas Connect Austria, Austrian Gas Grid Management AG, Eustream, mit Material von DPA und AFP