Es fing klein an. Als Mark im Schritt seines Sohnes im Säuglings-Alter eine Schwellung entdeckte, machte er einige Fotos, um die Entwicklung zu dokumentieren und sie Ärzten vorlegen zu können. Zwei Tage später begann ein Albtraum, der ihn nicht nur zehn Jahre Daten bei Google kostete, sondern ihn auch zum Verdächtigen in einer Polizei-Ermittlung machte.
Ein Warnsignal seines Android-Smartphones veränderte alles, berichtet Mark in der "New York Times". Sein Google-Account sei stillgelegt worden, weil er "schädliche Inhalte" geteilt habe. Das sei "eine schwerwiegende Verletzung der Google-Richtlinien und möglicherweise illegal", informierte ihn die Benachrichtigung. Sein Zugang zu Google - seine Mails, Kontakte, seine in der Cloud gespeicherten Bilder, der Kalender und sogar sein über den Dienst GoogleFi laufender Handy-Tarif - war mit einem Schlag nicht mehr nutzbar. So konnte er auch keine Sicherheits-Codes für andere Konten mehr aufs Smartphone erhalten, und verlor auch den Zugriff auf diese.

Unter Verdacht
In einem Beschwerde-Formular versuchte der in San Francisco lebende Hausmann, Google zu erklären, was passiert war. Als er die Infektion an den Genitalien seines Sohnes entdeckte, machte er Fotos, um sie zu dokumentieren. Nachdem seine Frau mit einer Ärztin einen Termin ausgemacht hatte, bat die Arzthelferin, die Bilder vorab zu schicken. Seine Frau sandte die Bilder von Marks Telefon per SMS an sich selbst, leitete sie von dort aus weiter. Tatsächlich identifizierten die Ärzte eine Infektion, sie wurde mit Antibiotikum behandelt.
Obwohl Mark bereits über zehn Jahre Google-Nutzer war, erhielt er von dem Konzern tagelang gar keine Antwort. Dann wurde sein Antrag ohne weitere Begründung abgelehnt. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Google hatte ein weiteres Video als potenziell problematisch markiert. Und ihn bei der Polizei wegen möglichen Kindesmissbrauchs angezeigt.
Automatische Prüfung
Die Begründung für das Vorgehen ist grundsätzlich nachvollziehbar und betrifft nicht nur Google. Die Internetkonzerne speichern mittlerweile Unmengen an Daten ihrer Nutzer auf ihren Servern. Und sind auch dafür verantwortlich, wenn illegales Material wie Aufnahmen von Kindesmissbrauch darunter ist. Nicht nur Google überprüft deshalb Bilder, wenn sie auf die Server geladen werden. Auch Facebook gleicht etwa Medien mit Datenbanken bekannter Missbrauchsaufnahmen ab. Google geht seit 2018 aber noch einen Schritt weiter: Mit künstlicher Intelligenz erkennt der Konzern potenziell problematische Bilder auch dann, wenn diese vorher noch nicht bekannt waren. So, wie es in diesem Fall passiert war.
Mark begann erst langsam zu dämmern, warum Google ihn gesperrt hatte. "Oh Gott, Google hält es für Kinderpornografie", kam ihm die Erkenntnis. Sorgen machte er sich zunächst nicht. Weil er sich selbst als Software-Entwickler mit der Erkennung problematischer Videos befasst hatte, wusste er, dass die automatisch markierten Daten irgendwann bei einem menschlichen Gutachter landeten - und hoffte darauf, dass dieser das Missverständnis erkennen würde.
Bis zu diesem Punkt "funktionierte das System wie es sollte", erklärte Fallon McNulty von der Cyber-Tip-Hotline der US-Kinderschutzbehörde der "Times". Sie untersucht mit ihrem Team die von Google und anderen gemeldeten Bilder und Videos. Mehr als 80.000 Fälle melden die US-Firmen demzufolge - jeden Tag. Allerdings handle es sich meist um bekannte Aufnahmen, so McNulty. Trotzdem wurden 2021 mehr als 4200 potenzielle neue Fälle an die Behörden gemeldet. Marks Sohn war einer von ihnen.
Post von der Polizei
Dass erfuhr er aber erst im Dezember. Zehn Monate nachdem er von Google ausgesperrt worden war, erhielt er einen Brief der Polizei von San Francisco. Der informierte ihn über die Ermittlung gegen ihn, enthielt Durchsuchungsbefehle für seine Online-Accounts und sämtliche Aktivitäten: Von der Internet-Suche über seine Aufenthalts-Logs bis zu Nachrichten, Fotos und Videos. Es gehe um Kindesmissbrauch, war die unmissverständliche Ansage. Erst als Mark den Ermittler anrief, bekam er die erlösende Nachricht: Der Fall sei eingestellt worden, bestätigte der. "Ich habe nach Durchsicht der Sachlage bewertet, dass kein Verbrechen begangen wurde", bestätigte der Ermittler. Weil Mark seine Mail und seine Telefonnummer geändert hatte, sei er nicht erreichbar gewesen.
Mark war erleichtert. Und bat nun Google mit den neuen Erkenntnissen, seinen Account wieder zu eröffnen. Ohne Erfolg. Stattdessen erhielt er eine Benachrichtigung, dass der Account mit Ablaufen einer einjährigen Frist ganz gelöscht würde. Mark konsultierte noch einen Anwalt, um seine Daten per Klage zu behalten. "Aber ich entschied, dass es keine 7000 Dollar wert ist", gab er sich resigniert. Die Daten sind mittlerweile verschwunden.
Kein Einzelfall
Nach Ansicht der Expertin Kate Klonick, einer Jura-Professorin der St. Johns Universität, ist Mark noch glimpflich davongekommen. Durch die automatische Meldung bei den Strafverfolgungsbehörden stehe etwa immer die Gefahr im Raum, das Sorgerecht zu verlieren. "Sie können sich vorstellen, wie das eskalieren kann", warnt sie gegenüber der "Times".
Nach Angaben von Google wurde die Anzeige letztlich nicht wegen des Genital-Fotos erstellt, sondern wegen eines Videos. Marks Frau hatte nackt neben ihrem Kind gelegen. "Es war ein unschuldiger Moment der Nähe", erklärt Mark. "Hätten wir doch nur mit Pyjamas geschlafen." Google erklärte der Zeitung, dass man die Entscheidung weiter für richtig halte.
Mark hat nun eine letzte Hoffnung, seine Daten doch noch zurück zu bekommen: In den Akten der Polizei sind Kopien seiner Cloud-Daten, die Google übergeben hat. Das Präsidium sei sehr bestrebt, ihm zu helfen, erklärte ein Polizei-Sprecher der "Times".
Quelle: New York Times