Vor rund einem Jahr ging der inzwischen weltberühmte Chatbot ChatGPT ans Netz. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des TÜV-Verbands unter 1008 Personen ab 16 Jahren hat rund jeder dritte Mensch in Deutschland bereits damit gearbeitet. Und obwohl KI schon vorher im Alltag vieler eine Rolle gespielt hatte, verschaffte OpenAI der Technologie mit dem leicht zugänglichen Programm eine Art "iPhone-Moment". Denn auch vor dem ersten Apple-Smartphone gab es ähnliche Geräte – aber erst Steve Jobs stieß eine nachhaltige Veränderung der Welt an.
Erst ChatGPT hat eine Art Bewusstsein für Künstliche Intelligenz und deren Möglichkeiten geschaffen. Das geht zwar auch nach einem Jahr nicht über mal mehr mal weniger nützliche Unterhaltungen hinaus, doch das Interesse von Nutzern und Industrie ist geweckt.
Das zeigen auch die zahlreichen Produkte, die kurz nach dem Start von ChatGPT plötzlich aufgetaucht sind. Scheinbar aus dem Nichts kamen Tools wie Otter, Midjourney oder Bard hinzu – und jede Woche werden es mehr. Erst kürzlich hat sich auch Amazon mit einem vergleichbaren Produkt dazugesellt, wohl aber erst nur für Geschäftskunden. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch Apple sich anschließt. Siri hätte eine gewisse Intelligenz bitter nötig – dieser Seitenhieb muss erlaubt sein.
Kunst durch künstliche Intelligenz: Midjourney und die Zukunft der Kreativität

Jedes Unternehmen ist in Eile
Es vergeht tatsächlich keine Pressekonferenz, keine Keynote und keine Videoschalte eines großen Unternehmens, in dem das Schlagwort KI nicht mindestens einmal fällt. Google-Chef Sundar Pichai stellte im Mai diesbezüglich wohl unabsichtlich einen Rekord auf und schaffte es in zwei Stunden, 143 Mal AI zu sagen – also mehr als einmal pro Minute. Wie wichtig das Thema für die Tech-Konzerne ist, ist leicht zu erraten.
Auch hier finden sich Parallelen zur Entwicklung des Smartphones – nach dem Startschuss durch Apple eiferten viele Firmen den Produkten nach und kamen innerhalb weniger Jahre mit immer besseren Geräten auf den Markt. Auch Apple machte in den ersten Jahren gewaltige Sprünge in der Entwicklung, so dass mit den iPhones immer mehr Funktionen überhaupt erst möglich waren.
An diesem Punkt befindet sich wohl auch KI. Die Ereignisse überschlagen sich, die Produkte, mal mehr, mal weniger ausgereift, gehen in großer Zahl ans Netz. Eine ganze Branche steht unter Druck. Und heute wie damals wird in vielen Fällen erst gehandelt, dann überlegt.
Ein Beispiel ist Meta Galactica. Die KI des Facebook-Mutterkonzerns überlebte nur drei Tage, bevor ihr der Stecker gezogen wurde. Denn obwohl Meta nach eigenen Angaben noble Absichten verfolgte und vor allem Wissenschaftlern helfen wollte, fanden Tester schnell heraus, wie sehr das Sprachmodell Texte zusammenfantasierte. Es dauerte nicht lange, da landeten zahllose Beispiele von rassistischen Pamphleten und generierten Fake-News im Netz.
Auch ChatGPT hat in einigen Ländern so manchen Kampf hinter sich. Italien sperrte den Chatbot aufgrund von Datenschutzbedenken wochenlang, behördliche Regulierung ist seit Monaten ein Thema. Der schnelle Fortschritt ließ viele Bedenken und Probleme unbeachtet, und das holt KI immer wieder ein. Die Branche kontert ihrerseits mit immer neuen Projekten. So arbeitet OpenAI offenbar an einer neuen KI namens Q*, eine "Artificial General Intelligence", kurz AGI oder umgangssprachlich Superintelligenz genannt. Was durch eine solche KI ausgelöst wird, ist noch vollkommen offen.
Viele Warnungen vor übereilter Weiterentwicklung von ChatGPT
Aber nicht nur Regierungen und Datenschützer warnen vor einer übereilten Entwicklung. Auch Experten aus der Szene, etwa der "Urvater der KI", Geoffrey Hinton, schmiss seinen Job bei Google und sorgt sich seither um die Folgen seiner Arbeit – Hinton hatte zuvor 50 Jahre lang an KI geforscht. Die Angst vor einer "Ausrottung durch KI" gipfelte im Mai 2023 in einem offenen Brief, den viele führende Köpfe der Branche unterzeichneten. Der Ruf nach Maß und Regulierung wurde nur ein halbes Jahr nach "Ausbruch" der Technologie deutlich lauter. Selbst Altman und Elon Musk riefen mit – und arbeiteten parallel an ihren Projekten weiter.
Wenig überraschend ist innerhalb der Branche also nicht viel passiert. Eher im Gegenteil. Es ist keine zwei Wochen her, da kam es bei OpenAI, dem Unternehmen hinter ChatGPT und Dall-E, zu einem Umbruch. Mitgründer und CEO Sam Altman wurde zunächst entlassen, später kehrte er auf seinen Posten zurück. Verloren hatte am Ende der alte Verwaltungsrat, der seinen Hut nehmen musste.
Man könnte das als innenpolitischen Zwist abhaken, wäre es dabei nicht um die Ausrichtung eines Unternehmens – und damit vielleicht einer ganzen Branche – gegangen. Es heißt, Sam Altman stehe für schnelles Wachstum, große Entwicklungsschritte und profitable Geschäftsmodelle. Das gefiel dem Verwaltungsrat des ursprünglich als gemeinnützige Non-Profit-Organisation gegründeten Start-ups nicht – sie sah den "Auftrag zur sicheren Entwicklung von künstlicher allgemeiner Intelligenz zum Nutzen der gesamten Menschheit" gefährdet.
Altmans Rückkehr und den neuen Verwaltungsrat bei OpenAI könnte man daher als Sieg von Team Kommerz über Team Sorgenfalte werten – die Auswirkungen wird man abwarten müssen.
Abwarten ist generell das Stichwort, welches man im Zusammenhang mit KI oft hört. Theoretisch hat die Technologie das Zeug, die Welt nachhaltig zu verändern. Das sehen nicht nur Branchen-Insider so, sondern auch Regierungen. Zuletzt sagte auch Russlands Präsident Wladimir Putin, dass sich sein Land nicht abhängen lassen dürfte, da seiner Ansicht nach "in allen Lebensbereichen ein neues Kapitel der Menschheit" beginne.
Das digitale Wettrüsten dürfte also nochmals deutlich Fahrt aufnehmen – denn selbstverständlich ist KI mehr als nur ein Chatbot, der auf Wunsch Texte, Videos oder Bilder zusammenkleistert.
Nährboden für Fälschungen aller Art – aber auch eine Chance
Dabei sollte man schon diese Funktionen auf keinen Fall unterschätzen. Schon jetzt ist das Internet voller KI-generierter Inhalte, die sich manchmal nur schwer von der Realität unterscheiden lassen. Eine gefälschte Videobotschaft eines Präsidenten oder künstliche Bilder von Personen können schon jetzt echte Folgen haben.
So mussten sich beispielsweise kürzlich die Grünen gegen einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken wehren, nachdem ein KI-generiertes Bild eines chaotischen Pizza-Buffets aufgetaucht war, das angeblich auf dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe entstanden sei. Bis zur Klärung verging genug Zeit, um Häme und Hass auf die Partei öffentlich freien Lauf zu lassen – und das bei einem Bild, das nicht einmal besonders gut gefälscht wurde.
Auch andere KI-Bilder gingen bereits viral, etwa Papst Franziskus in einem opulenten Wintermantel. Die Zeit, bis eine solche Fälschung entlarvt wird, wird immer länger – und mit jeder vergangenen Minute wird der angerichtete Schaden größer. Selbiges gilt für vertonende KI-Werkzeuge, die etwa Anrufe einer Person simulieren können, Die Möglichkeiten werden immer vielfältiger, während die Regulierung und Erkennung aktuell nicht hinterherkommen.
Bei der bevorstehenden US-Wahl wird man sehen, was KI-generierte Texte, Bots und Bilder für eine Rolle spielen. Sollten die sozialen Netzwerke dabei versagen, die Inhalte zu filtern und gegebenenfalls zu sperren, könnte das Ausmaß an Wählerbeeinflussung mittels KI vollkommen neue Dimensionen erreichen.
Mit ausreichender Kontrolle ist KI auf jeden Fall ein wichtiges Werkzeug – und wird auch in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein. Große Datenmengen ließen sich ohne KI kaum auswerten, auch für autonome Autos, Smartphone-Kameras und die Industrie ist KI entscheidend. Was jedoch die Verfügbarkeit von Werkzeugen für eine breite Öffentlichkeit angeht, muss sich auf Seiten der Regulierer nach wie vor viel tun, sollte man die überaus schnelle Entwicklung noch einfangen und kontrollieren wollen.