Krieg in der Ukraine Durchbruch zur dritten russischen Linie – so schätzt der Nachrichtendienst des Pentagons Kiews Chancen ein

Die K,ämpfe sind hart und zäh. Ein Ukrainer wurde bei Bachmut in den Kämpfen um Klischtschijiwka verwundet.
Die K,ämpfe sind hart und zäh. Ein Ukrainer wurde bei Bachmut in den Kämpfen um Klischtschijiwka verwundet.
© Libkos/AP / DPA
Den ukrainischen Soldaten gelang es in den letzten Tagen, tiefer in das russische System einzudringen. Trent Maul von der Defense Intelligence Agency analysiert, wie viel Zeit und welche Möglichkeiten die Offensive hat.

Nach 180 Tagen zähen Ringens nimmt die ukrainische Offensive nun tatsächlich Fahrt auf. Um das Dorf Robotyne herum konnten Kiews Truppen den Einbruch in die russischen Stellungen vertiefen und zugleich verbreitern. Dabei konnten sie die russische Hauptverteidigungslinie vor dem Dorf Werbowe durchstoßen. Von einem Durchbruch durch diese Linie kann man im militärischen Sinn noch nicht sprechen, dazu müsste die Ukraine tiefer einbrechen.

In diesem Kontext gab Trent Maul, Chefanalyst der amerikanischen Defense Intelligence Agency (DIA) dem "Economist" eines seiner seltenen Interviews. Auch ihn stimmen die Entwicklungen der vergangenen Tage positiv. "Hätten wir dieses Gespräch vor zwei Wochen geführt, wäre ich etwas pessimistischer gewesen", sagte er dem Blatt. "Der Durchbruch auf diesem zweiten Verteidigungsgürtel … ist tatsächlich ziemlich beachtlich." Abwechselnd wird diese Linie als zweite Verteidigungslinie oder als erste Hauptverteidigungslinie genannt. Hier endete das russische System der Vorpostenstellungen.

Oberst a.D. Ralph Thiele
Oberst a.D. Ralph Thiele ist trotz der letzten Erfolge der Ukraine skeptisch, was den Kriegsverlauf angeht
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Artillerie entscheidet den Krieg 

Die Frage ist nun, kann Kiew diese zweite Linie in der Breite überwinden, tiefer in den Raum vorstoßen und dann die dritte große Linie der Russen durchstoßen? Dahinter ändert sich der Aufbau des russischen Systems, es gibt dann keine oder minder zusammenhängenden Blockadelinien mehr. Die DIA ist weit weniger bekannt als die CIA. Sie plant keine Auslandseinsätze von Agenten, sondern sammelt Informationen über militärische Mächte. Sie stellt die Informationsgrundlagen der militärischen Planung bereit.

Sechs bis sieben Wochen blieben

Trent Maul gibt zu, dass die ukrainischen Militärs und ihre Verbündeten die Schwierigkeiten unterschätzt haben, die ihnen das russische Stellungssystem bereitet hat. Seiner Einschätzung nach kann Kiew die Offensive noch weitere sechs bis sieben Wochen aufrechterhalten. Spätestens dann wird das Schlammwetter offensive Operationen massiv erschweren. Zugleich dürfte die Offensivkraft der ukrainischen Streitkräfte erschöpft sein. Die Offensive kann dann nicht mehr durch das Zuführen frischer, kampfstarker Einheiten genährt werden. Bereits jetzt sind die letzten unverbrauchten mechanisierten Eliteformationen Kiews im Einsatz. Die letzten Erfolge wurden von der 82. Luftsturmbrigade erzielt. Für den Fortgang der Kämpfe wird es entscheidend sein, ob Moskau seine Einheiten weiterhin mit großen Mengen von Artilleriemunition versorgen kann. Und in welchem Maße Kiew Munition erhält, so Maul.

Differenziertes Bild 

Einigen Ansichten, die in der Diskussion aufgetaucht sind, widerspricht der Analyst. Im Westen wurde vielfach kritisiert, dass Kiew seine besten Truppen auf mehrere Abschnitte verteilt hat und so bei Robotyne nicht wirklich einen massiven Schwerpunkt aller Kräfte einsetzen konnte.

"Ein Erfolg ist auch dann fraglich, wenn die Ukrainer die Art von Taktik angewendet haben, von der andere hoffen, dass sie in kürzerer Zeit aggressivere Gewinne erzielt hätte." Die Gegenposition lautet, dass ein starkes Massieren gepanzerter Einheiten nicht zu einem raschen Durchbruch geführt hätte, sondern diese Truppen ganz genauso in Minenfeldern und Artilleriefeuer liegengeblieben wären – nur mit weit größeren Verlusten. Und dass die ukrainische Taktik andauernder zermürbender Angriffe mit kleinen Gruppen zwar zäh verlaufe, aber letztlich erfolgreicher sei.

Eine andere optimistische Einschätzung teilt Mault hingegen nicht. Ukrainische Generäle sagten dem "Guardian", dass Russland etwa 80 Prozent aller Kräfte in der ersten und zweiten Verteidigungslinie versammelt habe. Gelinge dort ein tiefer Durchbruch habe der Kreml keine Truppen, um den Angriff abzuriegeln oder die weiteren Stellungen zu besetzen. Maul nimmt dagegen an, dass der Großteil der russischen Verstärkungen in der dritten Zone liege. Man also nicht damit rechnen kann, dort leere Gräben vorzufinden.

Positiv hingegen sei, dass der Kreml zwei seiner fähigsten Kommandeure verloren hat. Sergei Surowokin wurde aus dem Dienst entfernt und Jewgeni Prigoschin starb beim Absturz seines Flugzeuges. Damit wurden der Kopf hinter dem russischen Verteidigungssystem und der Eroberer von Bachmut aus dem Spiel genommen.

Dennoch ist Maul insgesamt nur vorsichtig optimistisch. Der "Economist" macht darauf aufmerksam, wie sorgsam der Analyst seine Worte wählt. Zu den ukrainischen Fortschritten wählt er das Wort "bedeutsam". Und zu den Aussichten, auch die dritte russische Linie zu durchbrechen, spricht er von einer "realistischen Möglichkeit", was sich mit 40 bis 50 Prozent übersetzen lässt. Oder auch so: Die Chance, dieses Ziel nicht zu erreichen, ist mit 50 bis 60 Prozent größer. Er warnt zudem, dass ein Durchbruch wegen des Mangels an Munition und dem Wetter "sehr schwierig" werden würde.

Wagnis oder Sicherung des Erreichten

Ein weiteres Indiz für die skeptische Haltung: Die DIA richtet ihre Aufmerksamkeit bereits auf das Frühjahr 2024. Im nächsten Jahr haben die ukrainischen Truppen eine sehr viel bessere Position, wenn es ihnen gelingt, die Eroberungen um Robotyne auszuweiten und zu konsolidieren, so Mault.

Auch das ist eine offene Frage: Gibt sich Kiew mit einem flächenmäßig eher enttäuschenden Erfolg bei Robotyne zufrieden, um eine feste Basis für eine spätere Offensive zu errichten? Oder sucht die Ukraine doch noch den Stoß in die Tiefe? Dann lockt vielleicht nicht mehr der Durchbruch bis zum Meer, aber die Befreiung einer strategisch wichtigen Stadt wie Tokmak. Denn die bisher befreiten Orte sind allesamt nur kleine Siedlungen, die man kaum Dorf nennen kann. Im Falle eines Scheiterns könnte das bisher Erreichte aber auch wieder verloren gehen.

Quelle: Economist

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