Krieg in der Ukraine Warum "ein Patt" nur die nette Formulierung für "Putin gewinnt" ist

Inzwischen leidet die Ukraine an einem Mangel von Artilleriegranaten.
Inzwischen leidet die Ukraine an einem Mangel von Artilleriegranaten.
©  Anatolii Stepanov / AFP
Weder Kiew noch Moskau kommen an der Front voran. Das heißt aber nicht, dass ein "Unentschieden" erreicht wird. Die entscheidende Frage lautet nun: Wer hält die Abnutzungsschlacht länger aus?

Die Welt blickt auf den Gazastreifen, gleichzeitig tobt der Krieg in der Ukraine unvermindert weiter. Im Westen sind die allzu optimistischen Prognosen über den Erfolg der ukrainischen Sommeroffensive einem nachdenklichen Ton gewichen. Kaum jemand glaubt, dass Kiew in diesem Winter einen großen Erfolg erreichen wird. Es wird inzwischen von einem "Remis" oder einem "Patt" an der Front gesprochen. Angesichts der Bewegungen an der Front hört sich "Patt" einleuchtend an. Keine der beiden Seiten kann größere Gewinne erzielen oder einen echten Einbruch in die gegnerische Front erzwingen. Mit aller Macht konnten die Ukrainer die Russen an einigen Stellen um ein paar Kilometer zurückdrängen, seit einigen Wochen können die Russen wieder vorrücken. Aber auch nur in einem sehr überschaubaren Maßstab.

Der Beinahe-Stillstand an der Front bedeutet jedoch nicht, dass die Lage statisch ist. Statisch würde bedeuten, dass sie lange unverändert andauern kann, dass ein stabiles Gleichgewicht an der Front herrscht. Seit dem Sommer wird an vielen Stellen der über 1000 Kilometer langen Front erbittert gekämpft. Auch ohne Vormarsch ist es ein Gemetzel. Unentwegt werden Material und Menschen verschlungen. Die Schwerpunkte der Kämpfe verlagern sich, die Namen der umkämpften Dörfer wechseln. Doch im Grunde ist es eine einzige gigantische Abnutzungsschlacht. Blutmühle oder Fleischwolf nannte man derartige Kämpfe im Ersten Weltkrieg.

Kollaps auch ohne Bewegung

Das ist keine gute Entwicklung. Die Sommeroffensive wurde gehypt, weil sich alle Experten einig waren, dass die Kiewer Truppen Putins Soldaten im beweglichen Gefecht überlegen seien – weil sie die bessere Moral, die bessere Ausrüstung und die bessere Einsatzdoktrin hätten. Das statische Gefecht hingegen spielt Putin in die Hände, weil die Mängel in der Truppenführung und Ausbildung weniger ins Gewicht fallen, sich dafür aber die höhere russische Feuerkraft auswirkt.

Das Wesen der Abnutzungsschlacht sind nicht Bodengewinne, auch wenn sie von der Propaganda ersehnt werden. Es ist ein Kampf, der den Gegner unentwegt schwächt und ausblutet. Dahinter steht das Kalkül, die eigene Seite könne die unvermeidlichen Verluste länger ertragen als der Gegner. Irgendwann bricht der dann vor Schwäche zusammen, auch wenn es vorher nicht zu gewaltigen Rückzügen gekommen ist. Die deutsche Niederlage im Westen am Ende des Ersten Weltkriegs ist das Paradebeispiel für so einen Schwäche-Kollaps der Front.

Von einem Patt in der Ukraine kann nur die Rede sein, wenn die Abnutzung des Krieges so gleichmäßig geschieht, dass keine Seite einen Vorteil erlangt. Das ist nicht unmöglich, doch die geringen Verschiebungen der Front können nicht als Beleg herangezogen werden.

Ukraine oder Russland: Wer hält den Schrecken länger durch?

Derzeit stehen die Vorzeichen nicht gut, dass Kiew diese Form des Krieges lange ertragen kann. Soldaten sind die wichtigste Ressource im Krieg. Russland hat etwa 140 Millionen Einwohner, die Ukraine etwa 44 Millionen. Im Prinzip zumindest, denn ein Teil der Bevölkerung lebt unter russischer Kontrolle, ein anderer hat das Land wegen des russischen Angriffskrieges verlassen. In den Ländern der EU befinden sich etwa 650.000 registrierte männliche Ukrainer im wehrfähigen Alter und entziehen sich so de facto der Wehrpflicht. Derzeit hat Russland etwa eine viermal größere Bevölkerung und ein entsprechend hohes Rekrutierungspotential. Auch wenn man bei den Russen höhere Verluste annimmt, bleibt das Ungleichgewicht bestehen.

Beim Kriegsmaterial hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass die russische Militärindustrie wegen der westlichen Sanktionen zusammenbrechen wird. Tatsächlich wurden die Neuproduktion und das Aufarbeiten von älterem Kriegsmaterial massiv gesteigert. Die Frage stellt sich: Kann die Ukraine in dem Maßstab Kriegsmaterial zuführen, wie es Putin neu produziert? Anders formuliert: Kommen die westlichen Lieferungen mit der russischen Produktion mit? Schicken wir mehr Panzer in die Ukraine oder macht es Putin?

Artillerie-Versagen des Westens

Insbesondere was die Neuproduktion von Waffen angeht, ist nicht zu erkennen, dass der Westen in eine Form von partieller Kriegswirtschaft eingetreten ist. Das beste Beispiel ist die versprochene Lieferung von einer Million Artilleriegranaten an Kiew aus der EU. Das Ziel wird weit verfehlt, während Russland innerhalb weniger Wochen eine Million Granaten aus Nordkorea erhalten hat und weitere folgen können. Es nützt auch wenig, wenn einzelne High-Tech-Systeme wie Iris-T zugesagt werden, an der Front aber schon ein bedenklicher Mangel an Standards wie einfachen Mörsergranaten (82 und 120 mm) herrscht.

Gleichzeitig nutzen die Russen die Wirtschaft und Infrastruktur der Ukraine unablässig ab – durch Drohnenangriffe und mit Gleitbomben. Kiew gelingt es auch regelmäßig, einzelne Hallen, Raffinerien und Stützpunkte in Russland zu treffen. So etwas behindert die Russen, aber ihr Vernichtungswerk in der Ukraine hat eine weit größere Dimension. Einfach gesagt: Jeden Monat, den der Krieg andauert, bleibt von der Substanz der Ukraine weniger übrig.

Krieg wird immer teurer 

Sollte der Krieg fortdauern, kann Russland seine Kriegsanstrengungen noch über Jahre hinaus weiter steigern. Es ist nicht absehbar, dass der Westen Russland von Einnahmen und Lieferungen aus der übrigen Welt abschneiden kann und die Putinsche Kriegswirtschaft kollabiert. Die eigene wirtschaftliche Leistung der Ukraine wird wegen der fortwährenden Zerstörungen noch weiter abnehmen, damit stellt sich die Frage, ob die Verbündeten Russlands Anstrengungen kontern können oder auch nur wollen. 

Dazu müsste Kiew von Jahr zu Jahr mehr Geld beziehungsweise Waffenlieferungen erhalten. Neben dem Anschwellen der russischen Produktion, müssen die starken Preissteigerungen der westlichen Lieferanten ausgeglichen werden. Artilleriemunition soll seit Beginn des Krieges um etwa ein Drittel im Preis gestiegen sein. Anstelle von 100 Millionen müssten heute über 130 Millionen für die gleiche Menge an Granaten überwiesen werden. Die Lage verschärft sich weiter, weil die USA ihre Unterstützung zurückfahren werden und erwarten, dass die Europäer diese Lücke auffüllen.

Auch wenn diese negative Aufzählung nicht in jedem Punkt wahr werden muss, macht sie deutlich, wie riskant es ist, sollte Kiew auf ein Patt setzen. Vergleicht man den Krieg mit einem Boxkampf, nützen Kiew Runden mit Unentschieden nichts, weil Russland mehr Runden durchstehen kann. Für ein echtes Patt müsste die Ukraine den Winter ebenso gut oder schlecht überstehen wie die Invasoren. Sollten die Ukrainer allerdings mehr erleiden, ist Patt nur ein nettes Wort für "Putin gewinnt". Gelingen den Russen außerdem Erfolge an der Front, drängen sie die Ukrainer zurück oder erobern sie ein oder zwei Städte, kann von einem Patt keine Rede sein. In diesem Fall würde das Pattszenario vollends zur Illusion.

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