Spricht man mit Beratern des ukrainischen Präsidenten oder wohlmeinenden Experten hier im Westen, dann hört man immer wieder dieses Mantra: Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen, Russland besiegt werden. Denn, so hieß es zum Beispiel jüngst in einem programmatischen Text von Nico Lange und Carlo Masala: Ein Sieg Russlands wäre das Ende der Welt, wie wir sie kennen.
Aber führt uns 21 Monate nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine das Reden allein über Sieg oder Niederlage weiter? Brauchen wir, brauchen die Ukrainer nicht mehr Realismus?
Nato-Ukraine-Gipfel: Der Westen muss eine klare Botschaft aussenden
Vor allem brauchen wir alle einen langfristigen, substanziellen Plan aus militärischer und ökonomischer Hilfe, der Putin klarmacht: Wir sind Realisten, aber wir stehen tatsächlich langfristig an der Seite der Ukraine, unabhängig von den jeweiligen innenpolitischen Erwägungen eines Landes. Zumindest was den militärischen Teil betrifft, sollte ein entsprechendes Signal vom Nato-Ukraine-Gipfel in Brüssel ausgehen.
Jeder Ukrainer und die meisten Menschen außerhalb der Ukraine würden sich wünschen, dass die Russen aus dem Land geworfen werden, die territoriale Souveränität des Landes wiederhergestellt, der Angreifer bestraft wird. Doch wer sagt, was er sich wünscht, sollte auch sagen, wie es gehen soll.
Zu Beginn des Kriegs herrschte Wunschdenken in Moskau: Der Kreml-Herrscher Wladimir Putin marschierte in die Ukraine ein in dem Glauben, das Land werde binnen Tagen kollabieren, die Ukrainer würden sich ihrem Schicksal ergeben. Der Angriff prallte am Heldenmut der Ukrainer ab, die sich dem Aggressor kollektiv entgegenstellten – und an der westlichen Entschlossenheit, die Ukraine zu unterstützen, die Putin so nicht erwartet hatte.
2023 war dann geprägt von Wunschdenken in der Ukraine und im Westen: Nach militärischen Erfolgen der Ukraine im Herbst vergangenen Jahres glaubte man an eine Wiederholung in diesem Sommer, manche hofften, dass die ukrainischen Truppen bei ihrer lang angekündigten Gegenoffensive womöglich gar bis zum Asowschen Meer vordringen könnten. Der Aufstand der Wagner-Söldner im Juni beförderte bei vielen das Gedankenspiel, Russland könnte kollabieren.
Jetzt, Ende November, ist es an der Zeit, dass wir uns von Illusionen verabschieden. Seit einem Jahr sehen wir einen Abnutzungskrieg, der jeden Monat tausende Tote und Verletzte hervorbringt, aber praktisch keine Gebietsgewinne. Heldenmut hilft nicht mehr, wenn feindliche Drohnen jede Bewegung registrieren und jeder Angriffsversuch im Granatenhagel erstickt. Und ganz offensichtlich gibt es geopolitische Faktoren, die auch die stärkste Militärmacht des Planeten, die USA, davon abhalten, den Ukrainern zum Beispiel Tarnkappen-Bomber zu liefern, die sie befähigen würden, Russland vernichtend zu schlagen oder zumindest Putins Truppen aus dem Land zu werfen.
Der Stellungskrieg ist auf Dauer nicht zu gewinnen
Dieser brutale Stellungskrieg, in dem die Kriegsgegner einander Tag für Tag dezimieren, ist für die Ukraine auf Dauer nicht zu gewinnen. Denn, erstens: Gekämpft wird auf dem Gebiet der Ukraine, dort werden Städte, Dörfer, Felder zerstört. Und zweitens: Mit 145 Millionen Einwohnern gegen 30 Millionen im Fall der Ukraine kann Russland vier- bis fünfmal so viele Menschen für den Krieg mobilisieren.
Wer in diesen Tagen des anbrechenden Winters durch die Ukraine fährt und sich nicht Augen und Ohren zuhält, der spürt, wie sich die Stimmung wandelt. Auf Soldatenfriedhöfen stammen die meisten Gräber aus diesem Jahr, nicht aus dem davor, aber wo bleiben die Erfolge? Die Menschen fragen sich zunehmend: Wohin soll das führen? Mitarbeiter der Wehrämter schnappen sich die Männer inzwischen in Teilen des Landes auf der Straße und am Bahnhof – zwei Tage später sind sie in der Armee. Es sind Methoden, die mehr und mehr an jene des Kriegsgegners erinnern.
Nein, sich den Russen zu Füßen werfen will niemand in der Ukraine. Aber fast zwei Jahre Ausreisesperre für Männer im wehrfähigen Alter, Millionen Geflüchtete, tausende Kriegsgefangene, eine Wirtschaftskrise, ein Krieg mit unklarer Perspektive, das alles führt dazu, dass es zu brodeln beginnt in diesem Kessel, auf den seit 21 Monaten ein Deckel gepresst wird. Konflikte innerhalb der Gesellschaft nehmen zu, auch Selenskyjs Umfragewerte sind zuletzt stark gefallen. Seit einigen Wochen werden nun auch im Land selbst Szenarien diskutiert, die nicht auf einer Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen von 1991 basieren.
Wir tun den Ukrainern heute keinen Gefallen damit, ihnen großmäulig wie der britische Premier Rishi Sunak jüngst wieder vom "Sieg" zu erzählen. Die Kommunikation aus den USA, dem wichtigsten Unterstützer der Ukraine, hat sich zuletzt schon deutlich gewandelt: "Wir konzentrieren uns darauf, die Bedingungen für einen gerechten, dauerhaften und nachhaltigen Frieden zu schaffen", schrieb vor einigen Tagen die US-Botschaft bei der Nato. "Wir werden sie (die Ukrainer) weiterhin unterstützen, um sie in eine möglichst starke Position am Verhandlungstisch zu bringen, wenn die Zeit gekommen ist."
Die Wahrheit ist: Dieser Krieg wird aller Voraussicht nach mit einer Art von Unentschieden enden, mit einem Einfrieren der Frontlinie und einer ausgeklügelten politischen Formel zur Frage, welchen Status die von Russland besetzten Gebiete haben. Je mehr Ukrainer die Knochenmühlen von Bachmut und Awdijiwka bis dahin noch auffressen, desto schlimmer für das Land. Dort sterben heute die Handwerker, die nötig sind, um das Land nach Kriegsende wiederaufzubauen.
Selenskyj sollte reinen Wein einschenken
Wir sollten deshalb mit einem langfristigen Plan für die Ausbildung von Soldaten und der Lieferung militärischer Güter für die Ukraine das Signal an Putin senden: Hier geht es nicht weiter für ihn. Es sollte ein Plan sein, der realistisch ist, der auch politische Turbulenzen übersteht, der unabhängig davon verfolgt werden kann, ob in dem ein oder anderen westlichen Land eine Regierung an die Macht kommt, die wenig Interesse am Wohl der Ukraine zeigt.
Zugleich sollte Präsident Selenskyj beginnen, seinen Bürgern reinen Wein einzuschenken: Den erträumten großen und schnellen Sieg wird es nicht geben. Nach seiner historischen Leistung, das Land im Widerstand gegen den Aggressor zu einen, könnte es seine zweite große Leistung werden, schmerzhafte Kompromisse einzugehen und so einen Weg in Richtung Frieden aufzuzeigen. Auch wenn es ein schlechter ist.