Krieg in der Ukraine Kiew schlägt zurück – gleich zwei Gegenoffensiven setzen den Truppen Moskaus zu

Ukraine
Urainkische Soldaten beim Anlegen einer Stellung.
© Smoliyenko Dmytro/Ukrinform/ABACA / Picture Alliance
Nach einem Angriff im Süden, im Raum Cherson, geht die ukrainische Armee nun auch im Norden im Raum von Charkow in die Offensive über. Beide Vorstöße sind nicht die lange angekündigte Großoffensive, sondern nur begrenzte Aktionen. Dennoch haben sie große Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf.

Diese Operationen beweisen, dass die Ukraine immer noch frische Reserven heranziehen kann, um damit zumindest regional Schwerpunkte zu bilden. Das heißt, dass es Putins Truppen bislang nicht gelungen ist, die Kiewer Streitkräfte so abzunutzen, dass sie nur noch passiv reagieren können. Tatsächlich ist es das erste Mal seit Beginn des Krieges, dass die Initiative auf dem Schlachtfeld bei Kiew liegt. Die Vormärsche bei Kiew und Charkow im Frühjahr waren letztlich ein Nebenprodukt des russischen Rückzuges. Nun wurden die Russen aus ihren Stellungen geworfen.

Ukraine: Waffenhilfe des Westens

Die Offensiven zeigen auch, dass die Waffenhilfe aus dem Westen wirkt. Die Operationen werden von Schützenpanzern und Transportern westlicher Bauart durchgeführt, ein Teil der eingesetzten Kampfpanzer stammt aus der polnischen Waffenhilfe. Und offenbar wirken sich die Lieferungen der USA an Mehrfachraketenwerfern aus. Zu den HIMARS ist reichweitengesteigerte Haubitzenmunition vom Typ "Excalibur" gekommen. Auch scheint die Luftverteidigung so zu funktionieren, dass sie die russischen Kampfjets und Hubschrauber stark behindert. Militärisch ist der Vormarsch der seltene Fall einer Offensive ohne nennenswerte eigene Luftwaffe. Positiv auch, dass es Russland nicht gelungen ist, zu verhindern, dass die Frontlinie eingedrückt wurde und es dabei sogar zu zwei relativ tiefen Einbrüchen gekommen ist. Und das, obwohl Moskau lange Zeit hatte, sich auf den Gegenangriff vorzubereiten.

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Begrenzte Gegenstöße 

Bis hierhin ist das die positive Deutung. Die man allerdings relativieren muss. Richtig ist, die Initiative ist an Kiew übergegangen – damit haben die ukrainischen Streitkräfte gezeigt, dass sie durchaus auch noch vorne gehen können. Das Wort "Offensive" trifft diese Operationen nicht. Es handelt sich um mehrere örtliche begrenzte Gegenstöße, die zu lokalen Gewinnen führen können, aber nicht das Potenzial haben, ganze Frontabschnitte der Russen aus den Angeln zu heben. Im besten Fall kann die Ukraine Erfolge nach Art der Russen erreichen und einzelne Brocken aus der gegnerischen Front herausknabbern. Als Einzelaktion können solche Erfolge wenig bewirken, nur wenn sie stetig fortgesetzt werden, mausern sich die taktischen Gewinne zu einem strategischen Erfolg.

In zwei Fällen gelang den Ukrainern ein für die Dimensionen dieses Krieges "tiefer" Einbruch in die russische Front. Das vermochten die Russen während der ganzen Donbass-Offensive nicht. Die russischen Positionen sind dünn besetzt, die Frontlinie hat "Löcher" und dazu ist das Gelände im Süden größtenteils flach und offen und wurde nicht mit verbunkerten Siedlungen übersäht. Kritisch kann man auch anmerken: Die Russen haben seit dem Frühjahr das Risiko tiefer Vorstöße vermieden.

Im Süden ist schon absehbar, dass die ukrainischen Streitkräfte einen "Finger" tief in die russischen Gebiete geschoben haben, aber seitdem festsitzen. Es gibt keinen zweiten "Finger", um einen Kessel zu bilden. Und noch schlimmer, die Russen konnten die Schultern an der Einbruchstelle im Wesentlichen halten. Das bringt bzw. brachte die vorgestoßenen Truppen in eine prekäre Lage. Ihre Versorgungslinie ist gefährdet und könnte ganz abgeschnitten werden. Die Gefahr heißt: Kiews Kräfte reichen aus, ein kleines Loch in die Front zu hacken, aber es fehlen dann frische Truppen, um den ersten Erfolg auch wirklich auszunutzen.

Verluste, nicht Dörfer sind entscheidend 

Wichtiger als die territorialen Gewinne sind die damit verbundenen Verluste. Den Angaben beider Seiten ist nicht zu trauen. Aber es ist kaum zu bezweifeln, dass Kiews Angriffstruppen im Süden starke Verluste erlitten haben. Russische Accounts zeigen Fotos und Videos von zusammengeschossenem ukrainischem Gerät. In einer Menge, in der man das den ganzen Krieg über nicht sehen konnte. Die Gegenangriffe im Süden sollen die Front im Donbass entlasten. Dort ist der Krieg noch langsamer geworden, die russischen Angriffe sind aber nicht zum Erliegen gekommen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Russland die letzte große Verteidigungslinie der Ukraine im Donbass vor dem Winter wird nehmen können. Eine Gefahr, die nach dem Verlust der Doppelstadt Lyssytschansk – Sjewjerodonezk durchaus bestand.

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© Peter Steffen/dpa
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Wie sind die Gegenstöße zu bewerten?

Sollte es Kiew gelingen, vor allem die tieferen Einbruchsstellen weiter zu verbreiten und dauerhaft zu halten, wäre das ein klarer Sieg für Kiew und eine Niederlage für Putin, auch ungeachtet der ukrainischen Verluste. Es wäre ein Signal an die eigenen Truppen, die Bevölkerung und die internationalen Unterstützer. Die Botschaft wäre: "Von nun an werden die Invasoren" zurückgedrängt." Das gilt vor allem dann, wenn der neue Vorstoß bei Charkow erfolgreicher und raumgreifender verläuft als der im Süden im Raum von Cherson.

Gesichert ist ein Erfolg jedoch nicht, umgekehrt gilt leider auch: Sollten die Russen die Kiewer Truppen in den nächsten Wochen auf die Ausgangsstellungen zurückwerfen, muss man die Operation als Fehlschlag bezeichnen. Den offenkundigen Verlusten steht dann kein Gewinn entgegen. Dann wurden wertvolle Reserven für nichts verbraucht. Und so groß der Moralgewinn im Falle des Erfolges wäre, so groß wäre die Depression, wenn diese Anstrengung erfolglos bleibt.

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