Bauern aus ganz Deutschland ziehen zum Brandenburger Tor, belagern mit ihren Traktoren das Regierungsviertel, pöbeln, schimpfen, drohen. Es werden Galgen errichtet. Es geht um Subventionen, also das eigene Portemonnaie. Und die Regierung, die sonst immer sagt, sie lasse sich nicht erpressen – knickt ein.
Vier Jahre zuvor: Hunderttausend Menschen ziehen durch Berlin. Schülerinnen, Eltern, Rentner, sie tragen bunte Schilder in den Händen und fordern Klimaschutz: Beim Protest von Fridays for Future gehen knapp anderthalb Millionen Menschen deutschlandweit auf die Straße. Zur gleichen Zeit sitzt das Kabinett Merkel zusammen. Die Kanzlerin und ihre Minister hören die Rufe und beschließen das "Klimapaket", das Klima im Namen trägt, aber keine ernsthaften Maßnahmen beinhaltet – nichts, null.
Ich stand an dem Tag in der Nähe des Brandenburger Tors, und in mir starb etwas. Das Vertrauen, dass die Politik reagiert, wenn Menschen sich in großer Zahl für ein konstruktives Ansinnen versammeln und sich dabei wie Demokraten und Demokratinnen verhalten.
Hart in der Sache, aber respektvoll gegenüber der Person
Viele, die damals als Schüler und Schülerinnen bei der Demo mitliefen, begannen sich später mit der Letzten Generation auf die Straße zu kleben, zivilen Widerstand zu leisten. Vorher durchliefen sie ein gründliches Training: immer ruhig bleiben, freundlich, sachlich – selbst wenn Autofahrer wütend werden. Wenn ein Angreifer zuschlägt oder tritt, zusammenrollen und den Kopf mit den Armen schützen. Im Gespräch mit Passanten und Politikern: hart in der Sache sein, aber immer respektvoll und freundlich gegenüber der Person.
Hunderte Menschen gingen in den vergangenen zwei Jahren hin, opferten ihre Zeit, ihre Gesundheit und manche sogar ihre Freiheit, um sich auf diese Weise für das Gemeinwohl einzusetzen: ein stabiles Klima, damit die 200 Toten des Ahrtalhochwassers die Ausnahme bleiben, das solche Katastrophen nicht zur Regel werden. Verfassungsschutz-Chef Haldenwang beschreibt die Letzte Generation als tief demokratisch in ihrem Appell an die Regierung.
Und die Reaktion der Politik? Die Letzte Generation wird auf Weisung des bayrischen Justizministeriums verfolgt, Kanzler Scholz nannte sie "völlig bekloppt".
Auch ich saß mit der Letzten Generation auf der Straße und habe protestiert, und das sehe ich nach fünf Jahren Klimaprotest in Deutschland: Einen selbsternannten "Klimakanzler", der von seinem eigenen Expertengremium abgewatscht wird und sich am gleichen Tag vor die Kameras stellt und sagt: mit der Klimapolitik laufe alles nach Plan – ein Kanzler, der also lieber lügt, als unsere Lebensgrundlagen zu schützen.
Die Regierung kuscht, das macht mich fertig
Und jetzt sind da die Bauernproteste, die Regierung kuscht, und es macht mich fertig. Dabei verstehe ich den Unmut der Bauern zum Teil, habe in der Vergangenheit auf Protesten mit ihnen gesprochen: Viele wissen, dass sie mit den Pestiziden und Düngern ihre Böden zerstören, dass sie ihren Kindern ausgelaugte Äcker hinterlassen, fühlen sich jedoch hilflos zermahlen zwischen preisdrückerischen Lebensmittelkonzernen und Bürokratie.

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Und trotzdem geht es bei den Protesten erstmal um sehr individuelle Forderungen. Die Regierung knickt ein. Das hat auch mit der Stärke des Bauernverbands zu tun, ja, aber ich glaube, das ist nicht alles. Zehn Jahre lang war ich als Reporter unter anderem für die "Zeit" und den "Spiegel" unterwegs. Mehr zufällig war ich zum Jahrestag von Pegida in Dresden, und was da passierte, traf mich so unvorbereitet, dass ich nach Leipzig zog, um systematisch über den Aufstieg der Neuen Rechten zu schreiben.
Der Pegida-Protest funktionierte
Viele Menschen in Dresden hetzten, schrien, brüllten. Es war hässlich. Und es hatte eine Kraft, die nicht zu übersehen war. Das merkten auch die anderen Reporter, die monatelang in Scharen hinströmten und darüber berichteten. Und der Pegida-Protest funktionierte. Die Regierung fühlte sich unter Druck gesetzt. Hörte zu. Verschärfte das Asylrecht, hebelte de facto Artikel 16 des Grundgesetzes aus.
Pegida hatte zu seiner besten Zeit 25.000 Menschen zusammen. Es war nicht die Anzahl der Menschen in Dresden, die den Ausschlag gab. Es war ihre Wut, die das Land veränderte, immer noch verändert. Oder besser gesagt: zurückwirft in dunkle Zeiten. Die AfD bekennt sich heute offen dazu, Menschen aus Deutschland deportieren zu wollen. Sie diskutieren die Idee, ein Stück Land in Nordafrika zum Freiluftgefängnis zu machen. Bis zu zwei Millionen Menschen würden dort eingesperrt werden.
Die AfD ist gegen freien Journalismus, gegen queere Menschen, gegen Gewerkschaften. Die AfD will die Demokratie abschaffen, das heißt, sie will eine Diktatur errichten, also Menschen verfolgen und unterdrücken. Björn Höcke, einer der Strippenzieher der Partei, ist Faschist. Faschismus, das ist Nazi-Deutschland 1933.
Mein Freund Othmane: würde deportiert. Meine Freundin Lou: müsste verstecken, wen und wie sie liebt. Meine Freundin Theresa: dürfte nicht mehr publizieren. Die Menschen, mit denen ich zusammen in der Klimabewegung bin: wurden eingesperrt.
Deutsche Rechtsradikale haben in den vergangenen Jahrzehnten über 200 Menschen ermordet. Dass es nicht mehr sind, liegt daran, dass Polizei und Verfassungsschutz dagegen vorgehen. Ich glaube nicht, dass die AfD solche Mörder mit Nachdruck verfolgen würde.
2018 haben wir erlebt, wie ein brauner Mob in Chemnitz Polizisten, Andersdenkende und Politiker angriff. Ich war damals als Reporter vor Ort, bei Einbruch der Dunkelheit musste ich meine Berichterstattung einstellen und ins Hotel fliehen, weil die Straßen zu gefährlich waren.

Höchste Zeit, wütender zu werden
Zu Recht gehen Zehntausende jetzt überall in Deutschland gegen die AfD auf die Straße. Und das ist wichtig, weil es wichtig ist, zu zeigen, dass wir viele sind. Und wieder sind da die bunten Plakate. Reden werden gehalten. Scholz und Baerbock kommen und lächeln in die Kamera. Und dann spielt noch eine Band, und alle hüpfen und singen mit. Die AfD hat Inhalte des "Geheimtreffens" mittlerweile einfach auf ihrem Instagram-Account veröffentlicht als offizielle Position der Partei.
Noch mal: Die AfD plant Deutschland ethnisch zu "säubern". Die wollen putschen. Die haben Mordfantasien. All das ist ausgiebig dokumentiert. Und die werden das durchziehen. Die Pläne dafür sind gemacht.
Es ist höchste Zeit, dass die demokratische Zivilgesellschaft wütender wird. Das gilt für den Kampf gegen Klimakrise wie gegen den Faschismus. Und nein, Demokratie und Wut widersprechen sich nicht. Als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich sich 2020 mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ, fuhren Tausende am gleichen Abend zur Parteizentrale der FDP in Berlin. Es war laut, spontan, und ja: roh, wie wir da standen, und es war klar, dass keiner der Protestierenden der FDP das durchgehen lassen würde. Es funktionierte – schon am nächsten Tag zog Kemmerich sich zurück.
Wut muss nicht das sein, was Pegida daraus macht. Wut muss nicht heißen, Galgen zu errichten und Fähren zu stürmen. Wut, das ist erstmal nur eine sehr klare Ansage: Hier wird eine Grenze überschritten, und das lassen wir nicht durchgehen. Wir stellen uns schützend vor die, die bedroht sind. Und wenn es sein muss, verteidigen wir uns und das, was uns heilig ist. Wütend, das heißt aus Routinen ausbrechen, die Demos in Deutschland so berechenbar und deshalb so leicht ignorierbar machen. Wut heißt mehr Mut, heißt mehr Kurzschluss und Kurzentschlossenheit. Mehr Aktion und weniger: Sind alle damit einverstanden? "Nie wieder", das ist jetzt. Anti-Faschismus lebt von der Tat. Für Fehlerkorrektur ist nicht später noch Zeit. Für unsere Demokratie läuft sie ab.
Was tun? Mal eben im Büro eines AfD-Abgeordneten vorbeischauen
Mal in das Büro eines AfD-Abgeordneten gehen und ihn mit den menschenfeindlichen Plänen seiner Partei konfrontieren – nicht aggresssiv, aber klar. Oder vor dem Büro eine Mahnwache anmelden und die Namen aller Opfer rechtsextremer Gewalt vorlesen: #saytheirnames. Das kann man auch mal jeden Tag machen, einen ganzen Monat lang.
Oder auf einer AfD-Veranstaltung aufstehen und mal laut fragen, wie diese Deportationen denn ablaufen sollen – wie das aussehen wird, wenn die Menschen nicht freiwillig gehen wollen, kommt dann die Polizei und zerrt sie aus ihren Häusern? Vielleicht auch noch mitten in der Nacht?
Und wenn das nicht geht, weil man nicht für sowas gemacht ist, dann kann man ins nächstgelegene Wohnheim für Geflüchtete gehen und fragen, was die Pläne der AfD mit den Menschen da machen, wie es ihnen geht. Am besten dann etwas zu essen mitbringen und eine Telefonnummer da lassen, falls mal Hilfe gebraucht wird.
"Radikale Zärtlichkeit" heißt das Buch der Autorin Şeyda Kurt, und darin findet man folgende Definition von Politik: Sie ist alles, was mit intensiver Begegnung und Konflikt zwischen Menschen zu tun hat.
Natürlich haben in dieser Nähe Gefühle einen Platz. Natürlich haben sie in der Politik einen Platz. Ohne sie kann es überhaupt nicht gehen, wird es auch nicht gehen.
Demokratinnen und Demokraten, es ist Zeit, dass wir wütender werden.