Donnerstag, 22.05.2003 SARS tötet, die Welt schaut weg

SARS kommt mir in diesen Tagen vor wie eine Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, wächst ein anderer nach, mindestens. Die gefährliche Lungenkrankheit vagabundiert durch Asien: erst Kanton, dann Hongkong und Singapur, dann Peking, jetzt Taiwan.

SARS kommt mir in diesen Tagen vor wie eine Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, wächst ein anderer nach, mindestens. Die gefährliche Lungenkrankheit vagabundiert durch Asien: erst Kanton, dann Hongkong und Singapur, dann Peking, jetzt Taiwan.

Aufatmen in Peking und Hongkong, Angst in Taiwan

Hongkong verzeichnet seit Tagen weniger als fünf Neuansteckungen, die Zahl der Patienten in den Krankenhäusern ist auf 170 gesunken. Auch Peking, die am schlimmsten betroffene Stadt, meldet weniger SARS-Fälle. Auch wenn jedermann weiß, dass die Zahlen geschönt sind, ist der Trend erfreulich. Dafür aber explodiert SARS in Taiwan. Die wohlhabende Insel, die nach Unabhängigkeit von Peking strebt, bekommt die Seuche nicht unter Kontrolle: Vorgestern gab es 40 Neuansteckungen und 12 Tote. Panik und Hysterie sind groß: Ein Mann hängte sich kürzlich auf, weil er fürchtete, seine Frau habe sich angesteckt (Lesen Sie dazu meinen Tagebucheintrag vom 9. Mai: "Die Kunst an SARS zu sterben, ohne SARS zu haben"). Bauern in einem entlegenen Dorf schnallten sich Büstenhalter um den Mund, weil die Masken in den Apotheken ausverkauft waren (Tagebucheintrag vom 19. 5. 2003: "Warum SARS-Masken sexy sind").

Die eigentliche Gefahr lauert in China

Taiwan bestimmt die SARS-Schlagzeilen weltweit, die eigentliche Gefahr aber lauert im chinesischen Hinterland bei den 900 Millionen Bauern (Tagebucheintrag vom 9. Mai: "Reform oder Revolution - wie SARS China verändert"). Harald Maass, der Peking Korrespondent der Frankfurter Rundschau, deckte auf, dass in den Krankenhäusern von Datong, einer Millionenstadt mit stinkenden Fabrikschloten und kohlestaubgeschwängerter Luft, vierzehnmal mehr Menschen mit SARS-Syptomen behandelt werden als die Behörden zugeben.

Auch Bianca Otero, die amerikanische Fotografin, die vor zwei Wochen vergeblich versuchte, die chinesische Hauptstadt zu verlassen (Tagebucheintrag vom 7. Mai: "Eine misslungene Flucht aus Peking"), berichtet Beunruhigendes. Seit einer Woche ist sie wieder unterwegs. "Endlich bin raus aus der Geisterstadt Peking" (Tagebucheintrag vom 2. Mai: "Einsam in Peking"), freute sie sich, als sie losfuhr. Sie erzählt:

3000 Kilometer mit dem Fahrrad

Bisher hat mich niemand nach Peking zurück geschickt, obwohl meine Reise einige Mal kurz vor ihrem Ende stand. Einmal wäre ich fast gesteinigt worden, aber davon später. Mit dem Fahrrad will ich bis nach Kunming fahren, die Hauptstadt der malerischen Yunnan Provinz, das sind mehr als 3000 Kilometer von Peking. Ich will herausfinden, wie SARS das Leben auf dem Land beeinflußt und verändert. In der Hebei-Provinz sind offiziell mehr als 240 Menschen an SARS erkrankt, 12 davon gestorben. Im Vergleich zu meinem ersten Ausbruchsversuch sausen diesmal weniger Krankenwagen umher. Ich schöpfe Hoffnung, dass die Seuche vielleicht doch nicht so schlimm ist, wie manche meinen und schreiben. Später muss ich einsehen, dass diese Hoffnung sehr trügerisch ist.

Wer Fieber hat, darf nicht weiterfahren

Obwohl ich China seit einem Jahr kenne und viel gereist bin, überrascht mich die Armut der Landbevölkerung. Am zweiten Tag liegt ein Baum quer auf der Straße. Dies ist der Kontrollpunkt an der Grenze zu einem Landkreis, an dem allen Reisenden die Körpertemperatur gemessen wird. Wer Fieber hat, darf nicht weiterfahren. Ich habe 37.3°C. Alles bestens. Ortsfremde wie ich müssen ein Formular ausfüllen, auf dem sie angeben, woher sie kommen und wohin sie reisen. Keiner darf länger als zwei Tage im Kreis bleiben. Manchmal bestehen die Straßensperre einfach aus zusammengeschütteter Erde. "Wie will die Regierung SARS stoppen, wenn die Epidemie hier erst einmal Fuß gefasst hat?", denke ich.

400 SARS-Infizierte verbreiten das Virus in ihren Heimatprovinzen

Ehe ich Peking verließ, habe ich in einer Hongkonger Zeitung gelesen, dass nach Angaben der Pekinger Stadtverwaltung zwei Millionen Wanderarbeiter die Hauptstadt verlassen haben - entgegen der Anordnung der Behörden. China ist eine Diktatur. Den Massenexodus aber konnten oder wollten die Politiker nicht verhindern. Die 14-Millionen-Stadt Peking hat insgesamt 3000 bekanntgegebene SARS-Fälle. Das bedeutet von 5000 Pekingern hat einer SARS. Übertragen auf die zwei Millionen geflüchtete Wanderarbeiter bedeutet das: Vierhundert SARS-Infizierte sind aus Peking geflüchtet und verbreiten das gefährliche Virus in ihren Heimatprovinzen.

Da draußen ist SARS-Land

Ich weiß, da draußen ist SARS-Land. Auch wenn es nicht zu sehen ist, auch wenn die Regierung anderes behauptet, auch wenn die internationalen Medien SARS schon beinahe vergessen haben und sich auf die nächste Story stürzen. Auch wenn sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mal wieder an der Nase herumführen lässt. Aber die Bauern wissen Bescheid. Sie vertrauen nur noch auf sich selbst. In vielen Dörfern rund um Peking haben sie Bürgerwehren gebildet, die Fremde davonjagen. In einigen Dörfern der Hebei-Provinz, die Peking umgibt, zwingen sie mich zur Weiterfahrt. Ich bin nicht böse auf sie. Vielleicht ist das ihre einzige Chance, SARS von ihren Familien fernzuhalten.

Über den Autor

Matthias Schepp, 39, arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt für den stern. Von 1992 bis 1998 berichtete er aus Moskau, 1999 eröffnete er das Büro des stern in der chinesischen Hauptstadt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern Moritz (3) und Max (1) lebt er im Zentrum Pekings. Schepp, der in Mainz und Dijon Geschichte studierte, sagt von sich selbst: "Mich interessiert das Verhalten von Menschen in Krisen- und Umbruchzeiten. Das Ende des Kommunismus ist mein großes Thema. In Russland war es gleichsam ein Sekundentod, in Peking beobachte ich das langsame Sterben der Ideen von Marx, Lenin und Mao."

Zwanzig Kilometer vor Baoding, einer Ein-Millionen-Stadt, drängt mich ein Auto an den Straßenrand. Ein Mann und eine Frau steigen aus, weisen sich als Beamte der Ausländerbehörde der Stadt aus. Ich fürchte, dass sich die Geschichte meiner ersten Peking-Flucht wiederholt. Ich erkläre ihnen, dass es in Peking im Moment keine Arbeit für mich gibt und mein Chef mir einen Urlaub vorgeschlagen hat. Ich bettele darum, weiterfahren zu können. Gewitterwolken ziehen heran. Ich schwinge mich aufs Fahrrad. Die Frau versucht mich festzuhalten, ich reiße mich los und strampele weiter. Diesmal werde ich nicht aufgeben! Der Wagen verfolgt mich, an der Stadtgrenze warten mehrere andere Autos auf mich. Die beiden haben Verstärkung herbeitelefoniert. Zwanzig Minuten wandert mein Pass von einer Hand zur anderen.

Ich werde verhört

Der Polizeichef kommt und verhört mich. Dann entscheiden die Beamten, mir sogar dabei zu helfen, ein Hotelzimmer zu finden. Sie stecken mir eine Zigarette an und bieten Wasser an. Von den 43 Hotels der Stadt haben nur zehn geöffnet. Mit dem Auto bringen sich mich zu meiner Unterkunft. Der Polizeichef hat sich entschlossen, mich kurzzeitig als Sprachlehrerin einzuspannen. Er probiert sein Schulenglisch an mir aus, bittet mich, ihn zu verbessern. Nach zehn Minuten sind wir die besten Freunde. So ist es oft in China: Nach dem anfänglichen Misstrauen sind die meisten Menschen sehr freundlich.

Ich frage den Polizisten, wieviele Einwohner in Baoding an SARS erkrankt sind. "Weniger als in den letzten Wochen", sagt er, Aber Sie wissen doch, dass die Zahlen sowieso nicht stimmen". Die Frau, die mich vor zwei Stunden noch so unfreundlich am Arm gerissen hatte, nickt zustimmend und fügt hinzu: "Aber wir waschen uns nun oft die Hände und halten alles "queen". Sie will "clean" sagen, englisch für "sauber", aber sie macht eine "Königin" daraus. Ich grinse. Eigentlich bin ich ungerecht. Mein Chinesisch hört sich bestimmt genauso an.

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Am nächsten Tag kaufe ich in einer kleinen Stadt Orangen, Wasser und Nudeln. Sofort bildet sich eine Menschentraube um mich. Wahrscheinlich sind Jahre vergangen, seit ein "laowai", ein Ausländer, hier das letzte Mal angehalten hat. Wahrscheinlich kennen viele Langnasen, wie Europäer und Amerikaner hier genannt werden, nur aus dem Fernsehen. Auf jeden Fall bin ich hier eine kleine Sensation. Ein Mann, er scheint wichtig zu sein, weil alle ihm Platz machen, erzählt mir, dass SARS vielen die Arbeit raubt. Er selbst hat ein Restaurant. "Die Bezirksregierung hat mir befohlen, es zu schließen", schimpft er. Als ich weiterfahre, frage ich mich, wovon die Menschen leben werden, wenn das so weitergeht.

"Sie sind so nett. Bitte kommen sie wieder, wenn SARS vorbei ist"

Weizen- und Erdbeerfelder schießen an mir vorbei, Kinder winken. Ich genieße den Sonnenschein und die Stille. Wenn die Lastwagen, die den schönen Namen "Ostwind" tragen und immer hellblau sind, herandonnern, falle ich jedesmal fast vom Fahrrad. Ihr Hupen droht mir das Trommelfell zu zerreißen. Nie werde ich mich daran gewöhnen. Chinesen zucken nicht einmal mit der Wimper. Wie halten sie das bloß aus?

Am Mittag ist es so heiß, dass ich öfter anhalten muss. Eine alte Fau gibt mir Wasser. Sie besteht darauf, das ich auf ihrem Holzschemel Platz nehme - so als würde sie mich seit Jahren kennen. Wieder versammeln sich Dutzende von Dörflern um mich. Ein Mann sagt mir. "Sie sind so nett. Bitte kommen sie wieder, wenn SARS vorbei ist."

Die hundert Kilometer hinter Zhengzhou, der Hauptstadt der zentralchinesischen Henanprovinz, sind die reine Hölle. Es ist die schlimmste Strecke, die mein Rennrad je gesehen hat. Mein Rad hat acht Jahre auf dem Buckel. Ich habe es in Amerika gekauft. Wenn die Straßen hinter Zhengzhou Asphalt haben, sind sie von unzähligen Schlaglöchern übersät. Ein Teil der Strecke besteht nur aus Schotter. Ich habe drei Reifenpannen. Das stört mich nicht sonderlich. Ich brauche fünf Minuten für einmal Flicken.

Ich entgehe nur knapp einer Steinigung

Am Donnerstagabend entgehe ich nur knapp einer Steinigung. Zwanzig Kilometer vor der 700.000 Einwohner-Stadt Gongyi, meinem Tagesziel, will ich an einem Stand am Straßenrand Eistee kaufen. Drei Männer und zwei Frauen stürzen auf mich zu, bewerfen mich mit Steinen. In den Zeiten von SARS sehen sie in mir nur noch eine Gefahr, keine Kundin. Dabei sind Chinesen normalerweise sehr geschäftstüchtig.

Ich werde nicht aufgeben. Ich habe in einer knappen Woche mehr als tausend Kilometer zurückgelegt. Knapp fünfhundert sind es noch bis Xian, der alten Kaiserstadt mit der berühmten Tonkrieger-Armee. Ob außer mir noch andere Touristen Mut haben, die Stadt zu besuchen? Ich bin gespannt.

Bianca Otero/Matthias Schepp

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