Die Psychoanalytikerin Brigitte Juy-Erbibou und die Psychologin Anne-Laurence Halford versuchen seit mehr als zehn Jahren mit ihrem Verein Entr'autres in Nizza, Jugendliche aus den Fängen der Dschihadisten zu befreien. Sie wissen genau, wie die salafistische Szene in Nizza funktioniert. Nach der Horror-Nacht auf der Promenade des Anglais kümmern sie sich jetzt um die Opfer.
Frau Juy-Erbibou und Frau Halford, wie engagiert sich Ihr Verein seit dem Attentat?
Die Präfektur hat uns damit beauftragt, die Opfer und Angehörigen psychologisch zu betreuen. Wir helfen ihnen, über das Erlebte zu sprechen, es zu verarbeiten und geben ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Wir leisten ihnen auch organisatorischen Beistand, zum Beispiel bei der An- und Ausreise oder bei Visaangelegenheiten.
Wieviele Leute haben die Hilfe bislang in Anspruch genommen?
ALH: Bis jetzt sind rund 500 Personen zu der psychologischen Anlaufstelle gekommen. Das ist sehr viel.
B J-E : Die Leute haben Verwandte oder Freunde verloren, manche sind noch auf der Suche nach ihnen. Es waren auch viele Kinder an dem Abend da, die werden von den Eltern hergebracht, damit sie das Geschehene verarbeiten können.
Was ist Ihre Einschätzung: Hat sich der Attentäter innerhalb kürzester Zeit radikalisiert, wie es der Innenminister verkündet hat, oder handelt es sich in erster Linie um einen psychisch Kranken?
ALH: Nach den Informationen, die uns vorliegen, wie er den Anschlag im Vorfeld geplant und ausgeführt hat, kann man schließen, dass er nicht geistig verwirrt war.
B J-E : Das war alles organisiert und berechnet, wie er den LKW gemietet, sich eine Waffe besorgt hat und dann am Nationalfeiertag – also einem symbolträchtigen Tag - in die Menge gerast ist. Wir warten zwar noch auf das Ergebnis der polizeilichen Untersuchung, aber der IS hat sich ja inzwischen zu dem Attentat bekannt.
Inwieweit kann man das recht spät verkündete Bekenntnis ernst nehmen? Macht sich der Islamische Staat es sich nicht eventuell zu eigen, ohne dass der Attentäter eine konkrete Verbindung zu der Gruppe hatte?
ALH: Sie haben ihn als "Soldat von IS" bezeichnet. Damit meinen sie entweder jemanden, der sich dem bewaffneten Kampf in Syrien usw. anschließt oder die, die auf dem Terrain der Ungläubigen agieren. Mit "Soldat von IS" meinen sie, dass die Person nach dem modus operandi gemäß der Propaganda der Organisation handelt. Darunter fällt auch der Gebrauch von Fahrzeugen als Waffen und die Wahl eines symbolischen Datums, wie das des Nationalfeiertags.
Der Vater des Attentäters hat erklärt, sein Sohn hatte ab dem 19. Lebensjahr psychologische Probleme und war zeitweise in psychiatrischer Behandlung…
B J-E : Das muss alles erst noch ausgewertet werden. Aber wir wissen, dass er einschlägige Facebook-Seiten konsultiert hat, die auf eine radikalislamische Ideologie hinweisen. Im Alltag war er allerdings nicht als praktizierender Muslim bekannt. Er entspricht damit für uns einem Profil, das wir als Radikalität des identitären Typs bezeichnen. Das meint eine Radikalität, bei der die religiöse Praxis nicht unbedingt eine wichtige Rolle spielt. Dabei kommt es an einem gewissen Punkt zu einem Drang nach Vergeltung. Das fällt vielleicht zeitlich mit einem Moment in seinem Leben zusammen, an dem es ihm nicht gut geht.
Können Sie bestätigen, dass in Nizza besonders viele junge Leute von radikalen Islamisten rekrutiert werden?
B J-E : Ja, wir kommen nach dem Departement Seine-Saint-Denis an zweiter Stelle in Frankreich. Viele werden hier radikalisiert, und rund 200 sind schon nach Syrien ausgereist. Insgesamt wurden rund 500 Personen in der Region Alpes-Maritimes als radikalisiert gemeldet, was sich nicht bei allen bestätigt hat. Aber die Zahl ist insgesamt hoch.
ALH: Es gibt viele Islamisten, die hier junge Leute anwerben. Allein Omar Omsen (Anm. d. Red. : ein in Frankreich bekannter Islamist) hat in Nizza rund 40 Personen rekrutiert. Und die, die angeworben werden, rekrutieren ihrerseits wiederum neue Leute. Das Internet spielt dabei eine viel geringere Rolle, als man gemeinhin annimmt. Der erste Kontakt erfolgt fast immer im realen Leben. Das Internet kommt erst danach als Beschleuniger ins Spiel.
B J-E : Die Leute kommen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, nicht nur aus Problemvierteln.
Was sind Ihre Methoden bei der Prävention?
ALH: Wir bieten spezielle Schulungen für Lehrkräfte, Sozialarbeiter oder auch Polizisten an. Wir helfen, bestimmte Anzeichen für eine eventuelle Radikalisierung bei einem Jugendlichen zu erkennen und zeigen, wie man darauf reagieren sollte. Wir bieten auch Gesprächskreise an Schulen an, um einer Radikalisierung vorzubeugen. Wir haben eine Elterngruppe eingerichtet, für Eltern deren Kinder nach Syrien gefahren sind. Manche der Kinder sind dort gestorben, andere versuchen wir zurückzuholen. Und wir betreuen Jugendliche, die dabei sind, sich zu radikalisieren.
Wie schaffen Sie es, radikalisierte junge Leute wieder auf den rechten Weg zu bringen?
ALH: Wir arbeiten schon seit 2005 an unserer Methode und haben schnell festgestellt, dass es nichts bringt, die Betroffenen überzeugen zu wollen, zumindest nicht, solange sie ideologisch und politisch radikalisiert sind. Wenn wir da gleich mit Gegenargumenten kommen, sehen sie sich nur noch weiter in ihrem rigiden System bestärkt. Als Psychologen und Psychoanalytiker schaffen wir zuerst ein Vertrauensverhältnis und dann versuchen wir, das, was wir das Prinzip der Gewissheit nennen, bei ihnen zum Bröckeln zu bringen. Wir wollen, dass sie an ihrer Gewissheit zweifeln und sich dann auf Gegenargumente einlassen. Diese Methode hat die stärkste Wirkung. Aber es ist sehr schwer, jemanden, der stark in der Radikalität verankert ist, da wieder rauszuholen.
Woran liegt es, dass so viele von Nizza aus nach Syrien in den Dschihad aufbrechen?
ALH: Zunächst an der geografischen Nähe. Und dann gibt es in der Region viele Leute, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Islamischen Heilsfront aus Algerien abgeschoben wurden und die hier den Nährboden für die dschihadistische Ideologie geschaffen haben.
Was genau geht in den Köpfen, der jungen Leute vor, die sich anwerben lassen?
ALH: Nach der Ideologie der Radikalisierten geht es darum, etwas Gutes zu tun, die Menschheit zu erlösen. Sie denken, dass sie die Menschheit von ihren "unreinen" Elementen befreien, sie reinigen.
B J-E : Sie wollen eine Umma, also eine ausschließlich islamische Gemeinschaft, schaffen, die nur ihre strenge Auslegung des Islams als Wahrheit anerkennt. Für sie gibt es nur eine Art, Muslim zu sein, nämlich die ihre. Viele von ihnen sind schon von Kindesbeinen an ideologisch geprägt. Das geschieht oft über einen Diskurs, der in der Abgrenzung der eigenen Gemeinschaft vom Rest der Bevölkerung und in einer Opferhaltung besteht. Es heißt, man solle zusammenhalten, sich auf die gemeinsame Identität besinnen, weil man Opfer eines abendländischen Komplotts sei. Dieser Diskurs stößt bei den jungen Leuten auf fruchtbaren Boden, sie fühlen sich dadurch bestärkt. Man lässt sie glauben, dass sie etwas Bedeutendes leisten können, wenn sie sich dieser Ideologie anschließen. Dieses Eintauchen in die Ideologie ist der erste Schritt in der psychischen Entwicklung. Der nächste besteht darin, dass sich die jungen Leute für ihre vermeintlich ungerechte, erniedrigende Behandlung durch die abendländische Gesellschaft rächen wollen.
Warum wollen sie ihre Ideologie mit Gewalt durchsetzen statt zu versuchen, die "Ungläubigen" mit Argumenten für sich zu gewinnen?
ALH: Der IS rechtfertigt das mit dem Argument des akuten Handlungsbedarfs. Sie behaupten, das Ende sei nahe und man müsse die Menschheit so schnell wie möglich von ihrer Unreinheit befreien. Diesen Aspekt findet man nicht so stark ausgeprägt in anderen radikalislamischen Organisationen.
Ist der religiöse Aspekt nicht nur ein Vorwand, um persönliche Gewaltgelüste zu rechtfertigen?
B J-E : Es handelt sich zweifelsfrei um eine politische Ideologie, die sich auf religiöse Diskurse stützt. Im Laufe ihrer Radikalisierung verweisen die Betroffenen unweigerlich auf religiöse Texte, heben deren politische und ideologische Aspekte hervor und legitimieren damit ihre Handlungen.