"Sakrileg!"
"Das ist Weihwasser!"
Die umstehenden Kritiker lächelten, aber man spürte: Sie waren konsterniert. Dabei wollte man sich nur etwas Wasser nachschenken. Aber es war nicht irgendein Wasser. Es war jenes kühle Nass, das in einer bauchigen Karaffe auf einem antiken Holztischchen darauf wartete, die wunde Kehle eines Schriftstellers zu ölen. Seit 47 Jahren empfängt der Suhrkamp Verlag Literaturkritiker und Autoren in den Privaträumen des verstorbenen Siegfried Unseld. Und seit 47 Jahren wird dieser Empfang mit einer Autorenlesung eröffnet. Dieses Jahr wurde die wunderbare Sibylle Lewitscharoff dazu auserkoren, aus ihrem neuen Roman zu lesen, der im Frühjahr bei Suhrkamp erscheinen wird. Dass sie nach Jahren in anderen Verlagen nun in dem Frankfurter Traditionshaus veröffentlichen darf, beeindruckte sie sichtlich: "Der Empfang, der mir bereitet wurde, ist von einer derartigen Großherzigkeit, wie ich sie noch nie erlebt habe. Das ist etwas Neues für mich. Endlich bin ich in einem Verlag gelandet, wo ich so viele Autoren großartig finde und sie einfach gerne lese. Das ist für mich eine große Ehre."
Freundliche Kulturkritiker und Schleim-Emphatiker
Immer noch ist Suhrkamp für viele Autoren der Höhepunkt ihrer Karriere. Und für viele Kritiker ist der Empfang in der Klettenbergstraße das Highlight der Messe. Hier herrscht für einen Moment Frieden im Natternnest Literaturbetrieb - selbst wenn es nur ein Scheinfriede ist. Zu dieser frühen Abendstunde sind die Matadore noch nicht allzu alkoholisiert. Die respektvolle Atmosphäre in diesen Traditionsräumen und der beruhigende Blick in den Garten verhindern allzu große Ausfälle. Zurechtweisung kleidet sich hier in höfliche Herablassung: "Sie haben mir gerade ins Ohr geblasen", bemerkte ein älterer Gentleman, mehr verwundert als empört. In einer Ecke des Wohnzimmers stand der Kulturchronist Rainald Goetz, in der Gesäßtasche sein notorisches Notizbuch, und strahlte verbindlich in die Runde. Eifrig wie ein Schüler beklatschte er die Eingangsrede von Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz. Wie kann ein so freundlicher Mann so beißende Kulturkritiken verfassen? Keine drei Meter von Goetz stand jener Literaturkritiker, den der Chronist in seinem neuen Buch "Klage" bissig den "Schleim-Emphatiker" nennt.
Die Atze Schröders der deutschen Literaturkritik
Der deutsche Kulturbetrieb ist ein großer Filz. Nirgendwo wird das so deutlich wie auf der Buchmesse. Von der Eingangstreppe der Suhrkamp Villa aus konnte man beobachten, wie die Buchmarktschreierin Elke Heidenreich aus dem Dienstwagen des "FAZ"-Herausgebers Frank Schirmmacher stieg. Noch eine Woche zuvor hatte sie im "FAZ"-Feuilleton eine pseudo-erregte Lobrede auf Marcel Reich-Ranickis Auftritt bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises gehalten. Heidenreich und Ranicki: Da haben sich die beiden Atze Schröders der deutschen Literaturkritik gefunden.
Während Heidenreich durch das Gartentürchen der Suhrkamp Villa schritt, sagte sie zu ihren Anhängern: "Ich weiß, dass das alles emotional und schnell war. Aber ich hatte so eine Wut." Wut und all ihre mehr oder weniger authentischen Spielarten können ein sehr effizientes Verhandlungsinstrument sein: Heidenreich pokert gerade um einen besseren Sendeplatz. Ranickis Auftritt bot ihr die beste Gelegenheit, noch einmal frontal anzugreifen. Wer ihr jetzt keinen früheren Programmplatz gibt, gehört eben zu den TV-Proleten. Dass Heidenreich für ihre verhandlungstaktischen Schachzüge eine Ranicki-Hymne als Vehikel nutzte, kam dem Ranicki-Spezi Schirrmacher nur recht. Da ist schon mal eine Fahrt im Dienstwagen drin. Vielleicht sogar auch noch die Rückfahrt.
Aber nicht alles im Kulturbetrieb ist Filz. Mut gibt es auch. Viel Respekt erfuhr Suhrkamp dafür, den diesjährigen Gewinner des Deutschen Buchpreises Uwe Tellkamp in sein Herbstprogramm genommen zu haben, nachdem Rowohlt den Autor immer wieder bedrängt hatte, seinen 900-Seiten-Roman "Der Turm" auf kalkulierbare 500 herunterzukürzen. Bei Suhrkamp wollte man nicht kalkulieren. Man wollte ein Buch, von dem man überzeugt war. Für diese Risikofreude wurde man nun belohnt.
Der Verlag als Geheimloge von Verschworenen
Viel erfährt man auf jeder Messe aus den Kulissen des Buchgeschäfts. Doch manche Geheimnisse werden selbst in weinseliger Runde nicht gelüftet. Joachim Unseld, Sohn des legendären Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld und Chef der feinen "Frankfurter Verlagsanstalt", gab selbst im fröhlichen Tête-à-Tête nicht die Hintergründe seines Verlagslogos preis, einem kleinen Elefanten: "Das verrate ich nur den Autoren, die schon zwei Bücher bei mir veröffentlicht haben." So macht man einen Verlag zu einer Geheimloge von Verschworenen.
Die Empfänge im kleinen Kreise sind Stille-Post-Filialen und Ruhepole im hektischen Messebetrieb. Der Reclam Verlag empfing in einer exklusiven Villa. In diesem gediegenen Ambiente sahen alle Anwesenden aus wie Unterrichtsmaterialien. Nirgendwo in Frankfurt sah man so viele Lederflecken an den Ellbogen wie hier. So ganz wird es dem klassischen Deutschunterrichtsausstatter wohl nie gelingen, sein akademisches Image abzulegen. Doch wo sonst kann man seine Maultaschen neben einer Germanistin löffeln, deren letzte Veröffentlichung eine Studie über die Entwicklung des erotischen Romans im Laufe der Jahrhunderte ist. Kopfschüttelnd berichtete die Dame über ihre Lektüreerlebnisse mit Roches "Feuchtgebieten". Dass Hämorrhoiden jemals sexy werden könnten, hätte sich weder diese Professorin noch ihre Studenten aus dem Oberseminar träumen lassen: "Das hat doch mit Erotik nichts zu tun!" Aber was hat das mit Oberseminar zu tun?
Jagd auf den O-Ton-Türken
In den Messehallen ward dieses Jahr zur Jagd auf den O-Ton-Türken geblasen. An jeder Ecke wurde der Bosporus durchleuchtet - immer mindestens mit 1000 Watt Kameralampen. Bei Kiepenheuer & Witsch musste Feridun Zaimoglu den ganzen Tag den Türken machen. Zaimoglus Autorenkollege Imran Ayata höhnte: Wenn A-Türke Zaimoglu vielleicht gerade einmal verhindert sein sollte, könne er gern den C-Türken machen. In allen Gesprächen über die Türkei wurde die Zensur angeprangert. Aber Zensur gibt's nicht nur in der Türkei. Beim Blumenbar Verlag musste man gleich zu Messebeginn ins Schreibwarengeschäft, um erst einmal einen ordentlichen Zensurstift zu erwerben: "Staedler Lumocolor permanent, Made in Germany". Damit schwärzte die Verlagsassistentin Passagen aus Olaf Kraemers Romy-Schneider-Roman "Ende einer Nacht". Im Verlag war eine Klage wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten eingegangen. Das Buch durfte nicht mehr mit den inkriminierten Stellen ausliegen. Seit dem umstrittenen Esra-Urteil gegen Maxim Biller haben die Zensoren leichtes Spiel. Blumenbar musste 2000 Exemplare per Hand schwärzen. Der wendige Kleinverlag half sich mit Humor und klebte auf jedes Buch einen Sticker: "Collector's Edition. Einstweilige Verfügung, 152 Wörter weniger".
Manager lesen Coelhos Kalenderweisheiten zur Seelenmassage
Bastelstunde auch beim kleinen Wunderhorn Verlag, der nächstes Frühjahr ein neues Buch von Le Clézio veröffentlichen wollte. Nun wurde man vom Nobelpreis für den unbekannten Franzosen überrascht. Fix wurde der Erscheinungstermin auf November vorgezogen. An der Übersetzung wird noch gearbeitet, aber der Umschlag wurde schon gedruckt und ebenfalls in Handarbeit um ein anderes Buch geklebt. Stolz präsentierte sich der Verleger vor den Blindbänden den Kamerateams. Jetzt wartet er geduldig, dass der Nobelpreis die Vorbestellungen hochtreibt.
Ganz ohne Nobelpreis hat sich der Brasilianer Paulo Coelho in die Riege der meistverkauften Autoren hoch spintisiert. Sein Verkaufsindex durchbrach vor kurzem die Marke von 100 Millionen Exemplaren. Ihm zu Ehren lud der Diogenes Verlag in einen noblen Club. Vor dem Eingang standen die neuesten Mercedes-Modelle, denn die Stuttgarter sponserten die Party des Chef-Alchimisten. Das Zielpublikum von Autor und Autobauer überschneidet sich: Gerne lesen Manager Coelhos Kalenderweisheiten zur Seelenmassage zwischen zwei Meetings. Zu Samba-Klängen drückte der brasilianische Prophet höchstpersönlich seinen meist blonden Jüngerinnen bewusstseinserweiternde Küsse auf die Stirn. 100.000.000: Ist das jetzt mehr oder weniger als die aktuelle deutsche Pro-Kopf-Verschuldung nach dem Finanzcrash? Jedenfalls kommt der Literaturbetrieb mit solchen Verkaufszahlen dem Börsenwesen schon ziemlich nah.
Rasende Gräfin und schnarchende Möpse
Nach langen Nächten schlafwandelte man von einer Podiumsdiskussion über das Andenken von Marion Gräfin Dönhoff hinüber zu den Ausführungen eines Münchner Tierarztes über Möpse. Von "Zeit"-Herausgeber Michael Naumann erfuhr man, dass die Gräfin gerne mit ihrem Porsche die Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Elbchaussee überschritt; von dem Tierarzt erfuhr man, dass Möpse schnarchen, eine allmorgendliche Zahneinigung brauchen, krokodilsförmige Milben auf ihrer sensiblen Haut beherbergen und an einem Mangel an Augenflüssigkeit laborieren: Möpse haben keine Tränen, auch nicht für Frau Dönhoff.
Während der müde Messebesucher durch die Hallen torkelte, taumelte ein paar Kilometer weiter der Dax über dem Abgrund der Totalpleite. Zu gerne hätte man mit den Wertpapierhändlern über Bücher gesprochen. Jedes Jahr liegt Frankfurt eine Woche lang im Spannungsfeld von zwei gegensätzlichen Polen: Finanz- und Geisteswelt. Wie verhalten sich diese Pole zueinander? Finden Broker überhaupt noch Zeit zum Lesen? Zum Denken? Oder marschieren sie auf dem Bohlenweg schnurstracks in den Abgrund? All das hätte man die Masters of the Universe, wie Tom Wolfe die Broker in seinem Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten" nennt, gern gefragt. Doch als Kulturjournalist wird man nicht einfach so aufs Parkett gelassen. Einerseits schade; andererseits schön, dass in den letzten Monaten das Kapital nicht einmal mehr versucht, sich die Maske der Kultur über seine hässliche Fratze zu ziehen.
Also befragten wir den Schriftsteller Alban Nikolai Herbst, dessen avantgardistisches Großoeuvre gerade Thema der neuesten Ausgabe der renommierten Literaturzeitschrift "Die Horen" ist ("Panoramen der Anderswelt. Expedition ins Werk von Alban Nikolai Herbst", edition die horen, 14 Euro). Herbst kennt sich aus mit Börse: "Ich war fünf Jahre Broker. Ich war als Währungshändler in Chicago und New York akkreditiert. Für mich war das eine abenteuerliche Zeit. Damals bekam ich hautnah mit, wie der Kapitalismus funktioniert. Vor allem aber hatte das alles sehr viel mit Fiktion zu tun. Im Grunde war es eine ähnliche Arbeit, die ich nach Feierabend ohnehin schon tat, wenn ich schrieb: Ich handelte mit Geschichten. Als Broker erzählt man Geschichten. Ich habe mit Zockern gearbeitet. Für die ist das Unterhaltung, Entertainment. Ich war Croupier. Als ich einstieg, war gerade der große Crash '87 gewesen. Einige Broker sind aus dem Fenster gesprungen. Danach bin ich gekommen. Es war eine ganz schöne Zeit. Man baute gerade wieder auf. Ich konnte zuschauen, wie die Welt durch etwas gestaltet wird, von dem man gemeinhin sagt, das gibt es gar nicht. An der Börse konnte ich sehen, wie wirklichkeitsbildend Imaginationen sind. Letztendlich bin ich dann ausgestiegen, weil ich mich zu stark verändert hatte. Man geht an der Börse mit sehr viel Geld um. Man verdient sehr viel und gibt sehr viel aus. Eines Tages war ich mit meiner Lebensgefährtin essen. Wie es so passiert, hat uns die Bedienung übersehen. Da habe ich 500 DM auf den Tisch gelegt und gesagt: 'Wenn Sie das als Trinkgeld bekommen, geht's dann?' Da ist sie gesprungen. Meine Lebensgefährtin hat mich mit einem derart verachtenden Blick angeschaut, dass ich am nächsten Tag gekündigt habe."
Hoffen wir, dass die Fiktionen der Börsenmakler eine nicht allzu apokalyptische Übermacht gewinnen, nachdem die Geschichtenmakler in Frankfurt ihre Messestände abgebaut haben.
Friedenspreis und E-Book-Hype
Der feierliche Schlusspunkt einer jeden Buchmesse ist die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche. Dieses Jahr wurde der Maler Anselm Kiefer ausgezeichnet. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Preises wurde damit ein Künstler geehrt. Immer wieder feierte Kiefers Werk die sinnliche Materialität des Buches.
Das Objekt Buch steht im Zentrum vieler seiner Bilder und Installationen, einmal auch als mächtiger Blei-Foliant. Mit diesem Preisträger schien der Deutsche Buchhandel die Sinnlichkeit eines Traditionsmediums beschwören zu wollen, das niemals so bedroht war wie in den Zeiten des E-Book-Hypes, der die Messe beherrschte wie kein anderes Thema. Mit Kiefers bleiernen Folianten errichtete der Börsenverein des deutschen Buchhandels einen symbolischen Schutzwall gegen die Buch-Pulverisierer Amazon und Sony.
Vögel füttern - aber richtig
Nicht zuletzt drückte die Ehrung des Naturmystikers Kiefer auch eine Sehnsucht der vergeistigten Büchermenschen nach Gras, Erde und mythischem deutschen Wald aus. Und tatsächlich verspürt man selten eine so starke Natursehnsucht wie nach einer Woche in stickigen Messehallen. So verließen wir nach Kiefers Dankesrede voller pathetischer Fantasy-Metaphern schnell die Paulskirche und gingen hinab zum Main, im Rucksack unsere Lieblingsbeute der diesjährigen Buchmesse - Peter Berthold und Gabriele Mohr: "Vögel füttern - aber richtig. Das ganze Jahr füttern, schützen und sicher bestimmen", Kosmos Verlag, 7,95 Euro. Am Fuße der hohen Bankentürme warfen wir einem Stockenten-Pärchen ein Stück Bratwurst mit Senf ins Wasser. Dieses Gespann ist bestens gegen jede Krise gewappnet: "Enten sind Allesfresser, die an Futterstellen nahezu alles verzehren, was nicht zu groß oder zu hart zum Schlucken ist."