Es gibt da einen Witz: Sagt die Mutter: "Mensch, der Kleine will heute wieder gar nicht einschlafen. Ich glaube, ich singe ihm ein Lied." Antwortet der Vater: "Willst du es nicht erst noch mal im Guten versuchen?"
Ja, Musik kann grausam sein. Doch jedes Jahr wieder setzen sich Millionen Menschen freiwillig den Qualen aus und verfolgen gebannt, wie Europa kämpft – friedlich, aber singend in der größten Musikshow der Welt. Am Samstag, dem 13. Mai, startet das Finale des Eurovision Song Contest. Spötter sagen: "Mit Liedern, die wie Krücken sind." Vorher werden in den beiden Halbfinalen schon mal potenzielle Rohrkrepierer ausgemustert.
Eine Garantie, dass wir in der Endrunde vom Hörsturz verschont bleiben, ist das trotzdem nicht. Aber was soll's? Eigentlich geht es hier ja nicht wirklich um Musik, sondern vor allem um den Spaß-, Aufrege- und Fremdschäm-Faktor. Und da sind wir vom ESC von jeher ziemlich verwöhnt.
Typen mit Monstermasken, entfesselte Table-Dancerinnen
Was hatten wir nicht alles an greller Vielfalt? Typen mit Monstermasken, entfesselte Table-Dancerinnen, Leute, die Wurst heißen, linkische Letten, extreme Esten, tuntige Tenöre, russische Omas, irische Truthähne und Aliens aus der Ukraine.
Natürlich gibt es zwischendurch richtig gute Musik, und so haben wir uns 2010 ausgiebig über Lenas verdienten Sieg gefreut. Aber eigentlich sind es Skandale und die Irren, die den ESC unterhaltsam machen. Bekannte Größen sehen wir nicht. Die meiden das Happening. Warum sollte sich Sarah Connor punktemäßig von einer kaukasischen Domina in Lackleder demütigen lassen, die über eine brennende Jurte flickflackt und dazu Volksweisen kreischt? Wie sollte es Herbert Grönemeyer aushalten, schlüge ihn ein flippiger Finne mit Fistelstimme im Flummi-Ball-Kostüm? Nein, nein: Im Mai gehen in Kiew mutige Barden aus der zweiten Reihe ins Rennen.
Hier nun ein paar Künstler, die vorab eine Erwähnung wert sind. Zuerst und unbedingt: Slavko Kalezić, die "Kunst-Bestie" aus Montenegro, mit dem Song "Space". Der Mann tritt als eine Mischung aus Bill Kaulitz und dem Erzengel Gabriel an. Mal trägt er Flügel, mal posiert er mit freiem Oberkörper und schwingt seinen großen, langen Zopf. Irritierend, aber sehenswert.
Wie gut, dass es jenseits politisch aufgeladener Scharmützel noch Beständigkeit und Tradition gibt.
Irland setzt auf einen Mann vor dem Stimmbruch: Der 20-jährige Brendan Murray wird "Dying To Try" singen. Gegen diesen Falsett-Fips klingt selbst Heintje wie der Don-Kosaken-Chor. Dafür singt die Belgierin Blanche wie ein Mann. Eine ganz normale und sehr schöne Stimme hat Julija Samojlowa. Die sollte für Russland mit der Ballade "Flame Is Burning" antreten.
Darf sie aber nicht. Denn im Jahr 2015 war Samojlowa zu einem Auftritt auf der Krim über Russland eingereist. Seit der russischen Annexion der Halbinsel wird dies jedoch mit einer mehrjährigen Einreisesperre geahndet. Russen schäumten, Ukrainer blieben hart. Jetzt hat sich Russland unter Protest zurückgezogen, und Putins Popqueen Samojlowa tritt erst beim nächsten ESC an.
Wie gut, dass es jenseits politisch aufgeladener Scharmützel noch Beständigkeit und Tradition gibt. Ralph Siegel, der Wiedergänger grauer Grand-Prix-Eurovision-de-la-Chanson-Urzeiten, komponiert immer weiter und schickt dieses Mal das Duo Valentina Monetta und Jimmie Wilson mit seinem leider etwas blutleeren Song "Spirit of the Night" für die "Grande Nation" San Marino ins Rennen. Unwillkürlich drängt sich eine Vision ins Hirn: Die Welt, zerstört von Klimawandel, Atombombe oder Gottes Zorn -, aber in den Ruinen eines Karpatendorfes komponiert ein zerknautschter Siegel unverdrossen Balladen für den untergegangenen ESC.
Die isländische Sängerin Svala hat eine schöne Stimme, sieht aber so blass aus wie ein Vampir im Trockendock.
Das große Gruseln bekommt man auch beim rumänischen Beitrag "Yodel it". Wenn die Sängerin Ilinca losjodelt und dabei wie ein misshandelter Hamster klingt, würde wohl selbst Graf Dracula lieber in Knoblauch baden, als der Dame weiter zuzuhören.
Apropos Dracula: Die isländische Sängerin Svala hat eine schöne Stimme, sieht aber so blass aus wie ein Vampir im Trockendock. Eine junge Frau namens Jana Burčeska tritt mit der eher lauen Disco-Pop-Nummer "Dance Alone" für Mazedonien an. Im Video zu ihrem Song tanzt sie in erotischer Unterwäsche mit eindeutigen Bewegungen einen bärtigen Typen an, der sie von einem Sofa aus anstiert. Und dann schmeißen beide Geschirr kaputt.
Kommen wir zu Startern mit echten Chancen: O'G3NE nennen sich drei fesche Schwestern aus den Niederlanden. "Lights and Shadows" heißt ihr mehrstimmig vorgetragener Country-Pop-Song. Unsere Prognose: Die kommen unter die ersten fünf.
Das könnte ebenfalls Claudia Faniello schaffen, die mit der Schmachtballade "Breathlessly" für Malta antritt. Auch Georgien setzt auf Gefühl. Eine löwenmähnige Dame mit dem leicht von den Lippen gehenden Namen Tamara Gachechiladze schmettert das bewegende Lied "Keep the Faith".
Ein Mädchentraum, der junge Mann.
Chancen hat auch Italien. "Occidentali's Karma" heißt der Song, den Francesco Gabbani vorträgt. Der sieht zwar aus wie ein mediokrer Heiratsschwindler aus Palermo, aber sein fröhlicher Elektropop geht ins Ohr. Ebenso wie der Song "Story of My Life" des weißrussischen Duos Naviband. Das Lied wird trotz des englischen Titels in der Landessprache gesungen und ist ein echter Gassenhauer.
Der jüngste Teilnehmer des Contests ist der Bulgare Kristian Kostov, der beim Singen seines ordentlichen Songs "Beautiful Mess" mit einer breiten Zahnlücke bezaubert. Der 17-Jährige könnte es mit Welpenschutz-Faktor weit bringen. Ein schöner Jüngling namens Isaiah Firebrace vertritt das europäische Kernland Australien. Er wird die arg ans Herz gehende Ballade "Don't Come Easy" singen. Ein Mädchentraum, der junge Mann.
Gleiches gilt für den Spanier Manel Navarro. Ein Surfertyp mit Mähne, der den eingängigen und gut tanzbaren Popsong "Do it for Your Lover" singt. Hübsche Jungs haben immer die Chance auf vordere Plätze. Im Gegensatz zu unserer Levina, deswegen steht sie auch am Ende des Textes. Sie kann singen und sieht nett aus, aber der Song geht nicht recht ins Ohr. Ein solider Mittelklassewagen tritt hier gegen etliche Rennwagen mit dicken Puschen an. Das kann nix werden. Deutschland – dies sei vorausgesagt – wird nach zwei verlorenen ... äh ... Sangeswettbewerben hintereinander noch nicht den Weg aus dem Punktekeller finden. Böhmermann, übernehmen Sie!
