"Markus Lanz" Sind Prozentzahlen wirklich wichtiger als eine Holocaust-Überlebende? Cem Özdemir weist Markus Lanz auf Instinktlosigkeit hin

Von Sylvie-Sophie Schindler
Markus Lanz interviewt die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer
Markus Lanz interviewt die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer
© Screenshot ZDF
Eine bewegende Begegnung: Eine der letzten Holocaust-Überlebenden berichtete über die NS-Gewaltherrschaft. Beschämend, dass Lanz ihr zu wenig Zeit einräumte und erstmal mit Cem Özdemir parteipolitisch werden wollte. Der Grünen-Politiker wies den Moderator jedoch zurecht. Mit Tränen in den Augen.

Noch immer, nach bald achtzig Jahren, quält sie die Frage, ob sie damals hätte mitgehen sollen. Mit in den Tod. Es war am 20. Januar 1943, als ihr Bruder Ralph, damals 17 Jahre alt, von der Gestapo verhaftet wurde, woraufhin sich ihre Mutter, die sie liebevoll "Mutti" nennt, ebenfalls stellte. Zu diesem Zeitpunkt war Margot Friedländer, geborene Bendheim, nicht zu Hause. Hätte ihre Mutter auf sie gewartet, wäre auch sie im KZ Auschwitz brutal ermordet worden: "Sie hat mir das Leben gerettet." Niemand aus ihrer Familie überlebte den Holocaust.

Neben vielen Erinnerungen konnte Margot Friedländer die Bernsteinkette ihrer Mutter bewahren. Mit goldgelben, braunroten Steinen. Sie trägt sie auch beim Lanz-Talk um ihren Hals: "Diese Kette ist das einzige, was ich von Mutti habe." Sie wurde ihr damals, an jenem schicksalhaften Tag, von jüdischen Freunden übergeben. Zusammen mit der Nachricht, die ihr die Mutter hinterlassen hatte: "Ich gehe mit Ralph, wohin das auch immer sein mag. Versuche, dein Leben zu machen."

Ja, Margot Friedländer hat ihr Leben gemacht. Am 5. November wird sie 100 Jahre alt. Eine vitale, eine wache, eine herzenswarme Frau. Eine, die sehr eindrucksvoll berichten kann. Erst vor elfeinhalb Jahren kehrte sie aus den USA wieder nach Deutschland zurück, nach Berlin, wo sie aufgewachsen ist. Nicht ohne Warnungen wie "Du kannst nicht zu diesen Bestien zurück." Doch sie habe erkannt: "Ich gehöre hierher, ich bin keine Amerikanerin." Sie hat sich selbst verpflichtet, unermüdlich als Zeitzeugin zu berichten, unter anderem geht sie regelmäßig an die Schulen: "Ich spreche für alle, die man unschuldig umgebracht hat."  Sie wolle warnen. Das, was geschehen ist, dürfe nie wieder passieren.

Özdemir will den Moderator noch ausbremsen

Angesichts des Erstarkens rechtsnationaler und rechtspopulistischer Parteien auf europäischer Ebene tun solche Appelle dringend not. Politologen weisen schon seit 2014 auf einen Rechtsruck hin. In Deutschland legt die AfD an Zustimmung zu, auch durch "das Versagen anderer Parteien", worauf Talkgast Markus Bröcker, Journalist, verwies. Dass nun Markus Lanz so wenig Zeit für Margot Friedländer einräumte, sie kam erst in der zweiten Hälfte der Sendung zu Wort, und vorab unbedingt wieder, denn das ist momentan seine große Passion, Koalitionsfragen klären wollte, dieses Mal mit Cem Özdemir, ist schwer nachzuvollziehen. Noch deutlicher: Es ist zutiefst beschämend. Da sitzt eine hochbetagte Holocaust-Überlebende mittendrin, während Lanz danach bohrt, ob man Annalena Baerbock nicht doch parteiintern gedrängt habe, für Robert Habeck Platz zu machen.

Özdemir wollte den Moderator anfangs noch ausbremsen. Als der mit ihm analysieren wollte, warum die Grünen im Vergleich zu den Zahlen im Juni so abgerutscht seien, machte der Politiker deutlich : "Ich tue mich schwer angesichts der Anwesenheit von Frau Friedländer über die Niederungen der Prozentzahlen zu reden." Mit belegter Stimme und Tränen in den Augen, also sichtlich berührt, sprach Özdemir weiter. Der Grund, warum er sich seinen Beruf ausgesucht habe sei, dafür zu sorgen, dass sich "das nie mehr wiederhole". Und das an die nächste Generation weiterzutragen. Das Wissen darüber dürfe nicht verloren gehen. Er deutete zu Margot Friedländer und betonte: "Das ist wichtiger." Und weil das wichtiger ist, soll an dieser Stelle nicht der Lanzsche Faux-Pas reproduziert werden. Statt Partei-Geschwalle ohne großen Mehrwert, das trotzdem folgte, soll Margot Friedländer den Platz bekommen. Hören wir ihr weiter zu.

Nach der Progromnacht am 9. November 1938 sei klar gewesen: "Hitler geht nicht, wir müssen gehen." Als Margot Friedländer am nächsten Tag zur Arbeit ging, herrschte auf den Straßen eine Atmosphäre, die sie nie vergessen werde, bei vielen Geschäften waren die Scheiben kaputt, die Waren lagen auf den Gehwegen, Menschen rafften an sich, was sie konnten. "Und die Uniformierten haben dabei gelächelt." Als sie in die Pension zurückkam, habe sie die "unendliche Traurigkeit" derer gespürt, die dort wohnten. "Es ist unvorstellbar, wie sich die Sache entwickelt hat, und das ist das, was ich so fürchte", sagte die 99-Jährige im Hinblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen. Sie entkam dem Gestapo-Mann, der in der Wohnung auf sie wartete, tauchte 15 Monate lang unter und wurde dann verhaftet und in das Ghetto Theresienstadt gebracht. Warum konnte das alles passieren, wie konnte es zum Holocaust kommen? "Darauf gibt es keine Antwort", so Friedländer.

Armin Laschet mit Josef Schuster am Holocaust-Denkmahl am Brandenburger Tor in Berlin.
Twitter-User empören sich über CDU-Wahlwerbespot am Holocaust-Denkmahl – Zentralrat der Juden springt Laschet zur Seite
© Youtube/ CDUtv
Twitter-User empören sich über CDU-Wahlwerbespot – Zentralrat der Juden springt Laschet zur Seite

Stimmung im Land ist vor Jahren stärker nach rechts gekippt

Jüngst hat eine rechtsextreme Partei menschenverachtende Plakate gegen die Grünen aufgehängt. "So hat es auch angefangen, vielleicht etwas stärker", sagte Friedländer. Ihrer Einschätzung nach sei die Stimmung im Land vor etwa drei, vier Jahren stärker nach rechts gekippt. Sie wolle nicht politisch werden, vermute aber einen Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle 2015. Sie selbst kenne allerdings keine Angriffe auf ihre Person. Anders Anna Staroselski. Die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion berichtete, es sei gefährlich, sich "offen jüdisch in Berlin-Neukölln zu bewegen". Sie mache deshalb unter anderem einen Selbstverteidigungskurs. "Es ist ein Versagen des Rechtsstaats, wenn Jüdinnen und Juden sich in diesem Land nicht sicher fühlen", so die 25-Jährige. Ihr sei wichtig, für Sichtbarkeit zu werben. "Auch als Juden können wir es uns leisten, uns nicht zu verstecken." Allein dass Frau Friedländer hier in der Sendung sitze und auch sie selbst, zeige: "Die Nazis haben nicht gewonnen."

Natürlich stimmt, worauf Lanz verwies, dass er immer wieder Zeitzeugen in seiner Sendung zu Gast habe. Und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er weiter dranbleibt. Nur bleibt zu hoffen, dass er beim nächsten Mal sensibler vorgeht. Lange wollte niemand in unserem Land denjenigen zuhören, die von den bis heute unfassbaren Verbrechen der Nazi-Deutschen berichteten. Heute gehört die Aufrechterhaltung der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen zum demokratischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland.

Klar ist aber: Die, die erzählen können, erzählen müssen, werden leider immer weniger. Und mit dem Verschwinden der Zeitzeugen wird viel verloren gehen. Der Soziologe Harald Welzer beschreibt in seinem Buch "Renovierung der deutschen Erinnerungskultur", dass die Geschehnisse während der NS-Zeit ohne persönliche Berichte zu etwas Abstraktem würden und sie dadurch erkalten könnten. Ob es wirklich so kommt, liegt an uns allen. Man könne nicht alle Menschen lieben, sagte Friedländer, aber allen Respekt geben: "In jedem Menschen ist etwas Gutes." Und: "Es gibt kein christliches, kein jüdisches, kein muslimisches Blut. Wir sind alle gleich; es gibt nur menschliches Blut."

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