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Der Tod fährt mit Das Motorradfahren hätte Mr. Hayabusa fast das Leben gekostet – doch er rast immer weiter

Die furchterregendste von Mr. Hayabusas Narben findet sich auf der Rückseite seines kurz rasierten Schädels. "Thanx Dr. Martin Theis" läuft ein Tattoo die Narbe entlang – in Dankbarkeit für sein Leben.
Die furchterregendste von Mr. Hayabusas Narben findet sich auf der Rückseite seines kurz rasierten Schädels. "Thanx Dr. Martin Theis" läuft ein Tattoo die Narbe entlang – in Dankbarkeit für sein Leben.
© Jann Höfer
Dieser Mann kennt nur ein Tempo: Vollgas. Mr. Hayabusa rast auf seinem Motorrad zu immer neuen Rekorden. Warum er nicht ans Aufhören denkt, obwohl der Tod ständig mitfährt.
Von Marc Bädorf

Mr. Hayabusa ist ein 1,88 Meter großer Mann mit dem Körper eines Schwergewichtsboxers und vorzüglichen Manieren, der sich im Laufe seines Lebens rund ein Dutzend mehr oder minder große Narben zugezogen hat. Die furchterregendste dieser Narben findet sich auf der Rückseite seines kahl rasierten Schädels. Sie ist wulstig und beulig und mittelfingerlang, reicht vom Nacken fast bis zur Höhe der Ohrmuschel. Links an der Narbe herunter läuft ein Tattoo aus schwarzen Buchstaben: Thanx Dr. Martin Theis. Der Wirbelsäulenchirurg hat Mr. Hayabusas dreifachen Genickbruch so operiert, dass dieser seinen Kopf an guten Tagen immerhin noch einige Zentimeter auf und ab bewegen kann. Manchmal fasst Mr. Hayabusa an seine Narbe, streicht mit seinen Fingerspitzen auf ihr entlang, bis er auf die Muskelstränge seines Nackens trifft. Die Narbe gehört zu ihm, sie erinnert ihn daran, wie viel Glück er hat, noch am Leben zu sein.

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© Daniel Delang

Ein Artikel aus ...

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Weiter ist über Mr. Hayabusa zu sagen, dass er im Juni ­dieses Jahres 61 Jahre alt geworden ist und einige Geschwindigkeitsweltrekorde im Motorradfahren hält. Die reichen ihm aber nicht. Spätestens im kommenden Jahr will er sich an einen neuen wagen. Deswegen verbringt er die Mittagspause eines sonnigen Montags im Herbst in einem Fitnessstudio am Rande der rheinischen Kleinstadt Euskirchen.

Dort steht er vor dem Spiegel, hebt und senkt zwei Hanteln, zum Aufwärmen 10 Kilo, dann 12, 16, 18, später 36. Über seine Unterarme ziehen sich dicke Adern, der Umfang seines Bizepses überschreitet 40 Zentimeter. Wenn sich ein Bulle entscheiden würde, Mensch zu werden, er sähe aus wie Mr. Hayabusa.

Nach den Hanteln kommen die Geräte, immer vier Sätze à zwölf Wiederholungen. Dann stellt er sich auf einen Crosstrainer, tritt so lange, bis ihm das Display anzeigt, dass er 800 Kilokalorien verbrannt hat. Sein Atem geht dabei ruhig und gleichmäßig, er ist angestrengt, aber nicht erschöpft. Am Ende hat er fast zweieinhalb Stunden im Fitnessstudio verbracht. Das wird er in den kommenden Monaten jeden Tag tun, um weiter machen zu können, was er liebt: sehr, sehr schnell Motorrad fahren. Als sich Mr. Hayabusa unwiderruflich in das Motorrad­fahren verliebte, trug er noch den gewöhnlichen Namen Elmar Geulen. Er lebte mit seinen Eltern in Huchem-Stammeln, einem Dorf in der Nähe von Düren, besuchte die achte Klasse eines Gymnasiums in der Stadt.

Sein Vater war der Stadtbaudirektor von Düren, hatte mit Motorrädern nichts am Hut, doch der Nachbar, ein Schreiner, besaß eine alte Rabeneick. Nachmittags traf sich Elmar mit dem Nachbarsjungen, fuhr mit ihm in den Feldern um Birkesdorf Wettrennen auf Zeit.

Einmal in jenen Monaten besuchte Elmar als Zuschauer eine Motocross-Strecke in der Nähe. An diesem Tag trainierten dort Fahrer mit Beiwagen, einer der Fahrer suchte noch einen Mitfahrer, er fragte Elmar. Und Elmar sagte zu. Nach vier Runden war sein Gesicht voller Schlammspritzer. "Ich hatte noch nie was Besseres gemacht", sagt er. Am nächsten Wochenende kam er wieder, an dem danach auch, sparte Geld, um sich eine eigene Maschine zu kaufen. Nach seinem Abitur begann er ein BWL-Studium, verbrachte trotzdem jede freie Minute auf der Strecke.

Viermal wurde er deutscher Meister im Motocross, wechselte zum Straßenrennen und nahm an Langstrecken-Meisterschaften überall auf der Welt teil. Zwölfmal fuhr er die  "Tourist Trophy" auf der Isle of Man, das gefährlichste Motorradrennen der Welt, bei dem seit 1907 mehr als 250 Menschen ums Leben kamen.  

Schneller als das schnellste Tier der Welt

Zur Jahrtausendwende führte der japanische Hersteller Suzuki die Hayabusa ein, das erste Serienmotorrad, das 300 Kilometer pro Stunde schaffte. Hayabusa, zu Deutsch Wanderfalke, das schnellste Tier auf der Erde, das im Sturzflug bis zu 320 km/h erreicht. Elmar Geulen kaufte sich eine, tunte sie und fuhr mit ihr Straßenrennen.

In diesen Jahren machte er aus sich eine Kunstfigur, die eines draufgängerischen, furchtlosen, kraftprotzenden Motorradfahrers mit Glatze und Ziegenbart. Eine Figur wie aus einem Comic, der er den Namen Mr. Hayabusa gab. Und weil Geulen immer wieder nachwies, ein würdiger Vertreter der Marke zu sein, erlaubte Suzuki ihm schließlich offiziell, sich Mr. Hayabusa zu nennen. Den Künstlernamen ließ er sich in seinen Personalausweis eintragen.

Als Mr. Hayabusa reiste er zu Motorradrennen in Deutschland und der Welt, wurde überall erkannt, gab Autogramme und posierte für Fotos. All diese Fotos hat er in Ordnern auf seinem Computer gesammelt, fein sortiert nach Jahren, Monaten, Tagen. Auf einem der Bilder steht er hinter einer Hayabusa, braun gebrannt mit Sonnenbrille und schwerer Goldkette. Rechts und links in seinen Armen hält er zwei Models des Penthouse-Magazins mit freiem Oberkörper. Auf einem anderen kniet er hinter einer jungen Frau. Sie hat ihre Hose heruntergelassen, und Mr. Hayabusa signiert mit einem Filzstift ihre rechte Pobacke.

"Für einen Mann, der Männlichkeit nicht nur demonstriert, sondern wirklich lebt, sind Frauen ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens", schreibt er in einem Selbstporträt. Nur so draufgängerisch wie er sollen sie bitte nicht sein. Als seine Frau, mit der er seit 1987 verheiratet ist, jüngst erzählte, dass sie gern einen Motorrad-Führerschein machen würde, redete er ihr das aus. "Da könnte ich ja nicht mehr ruhig schlafen", sagt er.

Mr. Hayabusa ist einer, der Stillstand nicht leiden kann. Ein Rastloser. Sein Geld verdient er mit Marketing, mit Events, mit Sponsoren. Die Herausforderungen, die er braucht, findet er in immer neuen Geschwindigkeitsrekorden. Können Rennen nur von Jahr zu Jahr neu gewonnen werden, haben Geschwindigkeitsrekorde den Vorteil, dass man sie schon eine Stunde später wieder übertrumpfen kann. Es ist ein Rennen, das immer weitergeht. Wer Geschwindigkeitsrekorde brechen will, braucht keine Gegner und kein Publikum. Nur einen stillgelegten Flughafen, eine unbestechliche Messtechnik, Mechaniker und eine Maschine. Obwohl Geulen seinen Körper und das Motorrad immer an die Grenzen treibt, geht bis auf ein paar Knochen­brüche, Prellungen und Sehnenrisse dabei immer alles gut.

Dann kam der Pfingstsonntag des Jahres 2013

Es war ein sonniger, warmer Tag. Wie in jedem der vergangenen Jahre hatte sich Mr. Hayabusa mit seinem zwölf Meter langen Wohnmobil auf den Weg nach Bremerhaven gemacht, um am dortigen Fischereihafen-Rennen teilzunehmen. Das Rennen sollte am Montag starten, am Sonntag gab es nur ein Training, bei dem die Fahrer die etwa 2,3 Kilometer lange Strecke kennenlernen konnten. Trotzdem waren schon einige ­Zuschauer gekommen, sie standen am Streckenrand, abgetrennt von der Piste durch aufgestapelte Strohballen. Geulen hatte für ­diesen Tag eines seiner Lieblingsmotorräder ausgewählt, eine weiße Hayabusa mit 225 PS und 1460 Kubikzentimeter Hubraum.

Der Kurs des Rennens war in jenem Jahr kurvenreich und eng, gleich nach der Startlinie kam eine 90-Grad-Kurve, in der Mr. Hayabusa versuchte, einen seiner Konkurrenten zu überholen. Ein Manöver, das ihm schon tausendmal gelungen war. Doch diesmal vergriff er sich beim Bremsen, rutschte mit ­seinen Fingern vom Bremshebel, musste erneut zupacken, griff zu, zu stark. Er überbremste.

Das Vorderrad blieb stehen, er wurde über den Lenker geschleudert, knallte mit dem Kopf zuerst auf den Asphalt, sein Körper überschlug sich. Das alles passierte in Sekundenbruchteilen, doch Mr. Hayabusa kann sich an jeden von ihnen erinnern: "Der Schmerz ist sofort wie Feuer durch meinen Körper gefahren", sagt er. Er stand noch mal auf, wankte hin und her, dann sackte er vor den Augen des Rennarztes zusammen.

Das Training wurde abgebrochen, der Verletzte zu seinem Wohnmobil gefahren. Dort legte er sich hin. Als später der Rennarzt nach ihm schaute, sagte Mr. Hayabusa bloß, dass er Prellungen habe. Er wünschte sich nur eine schmerzstillende Spritze. Am nächsten Tag fuhr er sein Wohnmobil unter fast unerträglichen Schmerzen 450 Kilometer von Bremerhaven zurück ins Rheinland.

Mr. Hayabusa behauptet von sich, dass er verrückt sei, aber nicht bescheuert. Deswegen ließ er sich nach seiner Rückkehr röntgen, ein Arzt stellte einen dreifachen Genickbruch fest, empfahl eine unverzügliche Operation. Nicht lange danach schnitt Dr. Theis den Patienten am Nacken auf und setzte ihm 16 Schrauben und eine Stahlplatte ein. Die Tage und Wochen danach waren fürchterlich. Mr. Hayabusa konnte nicht ohne Schmerzen sitzen oder liegen, konnte kaum etwas essen, verlor 20 Kilo Gewicht. Als die Ärzte ihm sagten, dass er vielleicht nie wieder Motorrad fahren können würde, öffnete sich vor ihm ein schwarzes Loch, in dem er zu verschwinden drohte. "Ich habe überlegt, mit allem Schluss zu machen", sagt er. Er überstand die Tage nur selten ohne Schmerzmittel und fragte sich, wofür überhaupt. Er war gewöhnt daran, alles sofort in die Tat umzusetzen, nun musste er vorsichtig sein, geduldig, musste auf jedes Zeichen seines Körpers hören. So kämpfte er  sich zurück.

Der Grenzgänger feiert seine Heldentaten

Mr. Hayabusas Haus, ein weißes Einfamilienhaus in Wißkirchen, einem Dorf nahe Euskirchen, ist sein eigenes Museum. An den Wänden der fünf Zimmer hängen Urkunden und Siegerkränze, an den Türklinken Medaillen und Rennanzüge. In den Regalen stehen Helme und Pokale, und auf der Toilettentür klebt ein riesiges Foto von Mr. Hayabusa auf dem Motorrad.

Wie ein Museumsführer läuft Geulen durch sein Haus, hält da und dort an, nimmt einen Helm in die Hand oder deutet auf einen Artikel. "Das war eine verrückte Aktion", sagt er dann. "So eine verrückte Aktion kann auch nur Mr. Hayabusa bringen." Oder: "Was Mr. Hayabusa da wieder gemacht hat. Das war ein Wahnsinn."

So arbeitet er sich durch die Zimmer vor bis zur Garage, in der seine Motorräder stehen, sechs Stück. Das wichtigste Motorrad, eine Hayabusa selbstverständlich, steht direkt vor dem Tor, auf einem kleinen Podest. Eine gewaltige Maschine, 511 PS stark, in der Spitze 300 km/h schnell, straßenzugelassen. Dieses Motorrad ist es, mit dem Mr. Hayabusa seinen neuen Weltrekord aufstellen möchte. Dafür arbeitet er Tag für Tag mit seinen Mechanikern, tauscht Teile aus, sucht nach Möglichkeiten, um Gewicht zu sparen.

Bei einem seiner letzten Weltrekordversuche im August des vergangenen Jahres fing die Maschine plötzlich zu qualmen an. Öl war ausgelaufen, hatte den Hinterreifen befeuchtet. Das soll nicht noch mal passieren.

Wenn nur das liebe Geld nicht wäre

Mr. Hayabusas Lieblingsfilm trägt den Titel "Mit Herz und Hand", er erzählt die wahre Geschichte des Burt Munro, eines Rentners aus Neuseeland. Sein ganzes Leben lang hatte Munro an einem Motorrad gebastelt, um es schneller zu machen, hatte den Traum verfolgt, mit seiner Maschine einmal bei der Bonneville Speed Week auf einem Salzsee in den USA zu starten.

Als er einen Herzinfarkt erlitt und überlebte, beschloss Munro, einen Versuch zu wagen. Er nahm eine Hypothek auf sein Grundstück auf, arbeitete als Koch auf einem Schiff, um die Überfahrt zu bezahlen. In den USA fuhr er einmal quer durch das Land, von New York bis an die Grenze zwischen Utah und Nevada. Dort, auf einem endlosen, ebenen Salzsee, der sich wie kein anderer Untergrund zum Motorradfahren eignet, stellte er tatsächlich einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf.  

"Dieser Mann bin ich", sagt Mr. Hayabusa. Seit Jahren träumt er davon, einmal auf einem Salzsee zu starten. Doch die Überfahrt für ihn, die Maschinen und sein Team würden achtzigtausend, vielleicht sogar hunderttausend Euro kosten. Geld, das er nicht hat.  

So bleiben ihm vor allem die stillgelegten Flugplätze, manche mit Rissen im Teer, aus denen Grasbüschel wachsen. Trotz der ungünstigen Bedingungen hält er aktuell mit 335 km/h den Rekord für straßenzugelassene Motorräder. Doch das genügt ihm nicht. Er möchte 360 km/h überschreiten.

Und so wird er irgendwann im kommenden Jahr, vielleicht im Frühling, wahrscheinlich im Sommer, mit seinem Wohnmobil zu einem jener zugänglichen Flugplätze irgendwo im Land fahren. Er wird seine Mechaniker mitnehmen, seine Hayabusa, seine Rennanzüge. Er wird hoffen, dass es nicht regnet, denn dann müssten sie den Versuch abbrechen, weil die Reifen ­keinen Halt auf feuchter Strecke finden. Er wird in seinen schwarzweißen Motorradanzug steigen, auf dem hinten ein Falke aufgestickt ist und die Aufschrift "Mr. Hayabusa – World Champion". Er wird seinen Helm mit zwei Spanngurten an seinen Motorradanzug binden, damit sein Kopf nach hinten gezogen wird und sein Nacken sich nicht sofort versteift. Dann wird er seine Hayabusa vorbereiten, sie zum Start der Landebahn schieben. Dort wird er für einen Moment innehalten, tief einatmen, das Visier schließen, bevor er versucht, seinen Oberkörper möglichst waagerecht auf das Motorrad zu legen. Er wird nun nichts mehr sehen von der Straße, nur noch seinen Tank, weil er seinen Kopf nicht mehr – wie früher – in den Nacken legen kann. Doch davon wird er sich nicht abhalten lassen, auf keinen Fall. Er wird seine Füße heben und den Gashebel bis zum Anschlag durchdrehen. Er wird spüren, wie es einen Wimpernschlag dauert, bis das Motorrad reagiert, mit einem Ruck losschießt und beschleunigt. 100 km/h nach zwei Sekunden, 200 nach fünf, 300 nach zehn.

Unter sich wird Mr. Hayabusa die buckligen und rissigen und krustigen Stellen der Strecke fühlen, während er sich mit allem, was er hat, mit aller Kraft, die er sich in den vergangenen Monaten antrainiert hat, an das Motorrad klammert, um nicht herunterzufallen. Überall an seinem Körper wird Schweiß ausbrechen, in Strömen an ihm herunterfließen, in seine Augen tropfen. Doch das wird er nicht bemerken, nein, er wird viel zu beschäftigt damit sein, das Letzte aus der Hayabusa herauszuholen, sie gegen den Luftwiderstand nach vorn zu treiben.

Und dann, ganz am Ende der Strecke, wenn die Landebahn fast schon in Acker übergeht und er zum Bremsen ansetzen muss, wird er hoffen, dass der Geschwindigkeitsmesser auf der Anzeige seines Motorrads eine Zahl jenseits der 360 anzeigt. Dass es einen neuen Weltrekord gibt. Einen, den nur er, Mr. Hayabusa, wieder brechen kann.

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