Familiengeschichte Während des Holocaust getrennt: Familie findet nach Jahrzehnten wieder zusammen

Drei Frauen halten sich an den Händen
Drei Frauen haben sich nach langer Zeit wiedergefunden (Symbolbild)
© Avelino Calvar Martinez / Getty Images
Zwei Schwestern aus den USA suchten jahrelang nach dem verschollenen ersten Kind ihrer Mutter, das dieser in einem Konzentrationslager weggenommen worden war. Durch einen Zufall stießen sie auf eine heiße Spur.

Zwei Schwestern aus den USA, Dena Morris und Jean Gearhart, hatten eine Mission, und das schon seit vielen Jahren. 1998 war ihre Mutter gestorben, Dora Rapaport. Sie hatte ihren Kindern ihre bewegende Lebensgeschichte erzählt: So war sie als Jüdin während des Zweiten Weltkriegs in ein Konzentrationslager gekommen, wo ihre unmittelbare Familie umgebracht wurde. Sie selbst überlebte auf für sie wundersame Weise, floh nach Kriegsende erst nach Österreich, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernte, und dann mit ihm in die USA. Doch neben dem tragischen Schicksal ihrer Eltern und Geschwister, das sie immerhin kannte, beschäftigte sie all die Jahre etwas anderes: Der Verbleib ihres ersten Kindes.

Das kleine Mädchen namens Eva war Mitte der vierziger Jahre auf die Welt gekommen, Dora Rapaport war mit etwa 17 Jahren eine junge Mutter. Dena und Jean, ihre Töchter, wissen nicht genau, wer Evas Vater war und ob das Baby auf die Welt kam, bevor die Mutter eingesperrt wurde, oder es gar erst im Konzentrationslager geboren wurde. Ein altes Foto existiert, das Dora Rapaport mit einem Baby im Arm zeigt – darauf sieht sie fröhlich und gut gekleidet aus. Ein Hinweis, dass Eva noch in Freiheit geboren wurde. Doch wenige Monate nachdem Dora Rapaport ins Konzentrationslager gesperrt wurde, nahm man ihr das kleine Mädchen weg. Sie erfuhr nie, was aus ihrer ersten Tochter wurde.

Der Mutter wurde das Baby weggenommen

Rapaport sprach oft über die kleine Eva und sie suchte sie ihr ganzes Leben lang. Mehrmals flog sie aus den USA nach Deutschland, um Waisenhäuser zu besuchen. Sie ließ Nachforschungen anstellen. Doch alles vergeblich. Als ihre Mutter im Sterben lag, versprachen Dena und Jean ihr, die verschollene Schwester nicht zu vergessen und die Suche fortzusetzen. Doch anfangs hatten sie wenig Hoffnung, jemals eine Spur zu finden – die beiden Frauen gingen davon aus, dass das kleine Kind den Krieg wohl nicht überlebt hatte. Dennoch gaben sie nicht auf.

Und dann machten sie einen der inzwischen populär gewordenen Gentests, mit denen man heutzutage grob seine Herkunft herausfinden kann. Durch diesen Test stießen die beiden Schwestern auf eine unbekannte nahe Verwandte – eine Nichte, die in England lebte. Beide waren überrascht und zuerst etwas skeptisch. "Es klang unglaublich, gelinde gesagt", gesteht Dena Morris. Doch die beiden nahmen Kontakt zu der Unbekannten auf, um mehr herauszufinden.

Die Schwestern finden ihre Nichte

Das erste, was Clare Reay zu berichten hatte, war leider traurig: Ihre Mutter, vermutlich die verschollene Schwester, lebte nicht mehr. Sie sandte Fotos an Dena und Jean – und die konnten es kaum glauben: Die Frau, die in England unter dem Namen Evelyn Reay gelebt hatte, sah der verstorbenen Dora Rapaport zum Verwechseln ähnlich. Auch charakterlich gab es viele Ähnlichkeiten. Clare Reay berichtete, dass ihre Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Waisenhaus adoptiert wurde, ein israelisches Paar nahm das jüdische Mädchen zu sich. Die einzige Information, die die Adoptiveltern bekam, waren, dass die Kleine 1945 in Bergen-Belsen geboren sein soll – weder Ort noch Jahr stimmen mit Dora Rapaports Berichten überein. Vermutlich waren alle entsprechenden Papiere im Krieg verloren gegangen, im Waisenhaus improvisierte man dann.

Das Paar aus Israel zog später mit dem Mädchen, das nun Evelyn hieß, nach England, wo sie aufwuchs und später selbst eine Familie gründete. Laut ihrer Tochter Clare wusste sie nichts über ihre wirkliche Herkunft, obwohl sie immer wieder versuchte, Nachforschungen anzustellen. Nach einigen Telefonaten, dem Austausch von Bildern, Anekdoten und Informationen, waren alle Beteiligten überzeugt, dass die Gendatenbank recht hatte und sie tatsächlich verwandt waren – und dass die verschollene Schwester gefunden worden war. Leider zu spät, aber immerhin konnten Dena und Jean nun in Kontakt mit ihrer Nichte treten, von der sie zuvor nie etwas wussten. Und Clare hatte plötzlich zwei Tanten in den USA.

Dei Frauen auf einer Couch
Dena Morris (l.), Clare Reay (M.) und Jean Gearhart (r.)
© MyHeritage

Die Familie findet endlich zusammen

Und nach vielen Monaten, in denen sich die Frauen nur telefonisch oder via Videocall unterhalten konnten, beschloss Clare, in die USA zu reisen und ihre Tanten zu besuchen. Überraschend stand sie eines Tages vor deren Tür – die Kinder von Dena und Jean hatten geholfen, das Zusammentreffen still und heimlich zu organisieren. Die Freude war überwältigend. "Es war das Großartigste, das mir je passiert ist", sagt Dena Morris in der "Washington Post". "Von dem Moment an, in dem sie über die Türschwelle trat und wir uns umarmten, war es, als ob sie einfach hierher gehört."

Clare blieb zwei Wochen in den USA, und nun planen ihre Tanten, bald die Reise nach England anzutreten und ihre Nichte dort zu besuchen. Alle freuen sich, diesen unverhofften Kontakt zueinander gefunden zu haben – wenn auch weder Dora Rapaport noch deren vermisste Tochter Evelyn dies miterleben konnten. "Bittersüß", nennt Dena Morris dies. "Alles, was ich hoffe, ist, dass die beiden sich im Himmel wiedergefunden haben und wissen, dass wir hier unten uns ebenfalls gefunden haben."

wt

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