J. Engelmann: "Jede Woche, Baby!" Unabhängigkeitserklärung

Die Freiheitsstatue in New York
Die Freiheitsstatue in New York
© Peter Foley/DPA
stern-Stimme Julia Engelmann findet es fast abartig, von wie vielen Sachen wir abhängig sind. Also beschließt sie: Es muss eine Unabhängigkeitserklärung her.

Als ich das Kord-Kleid nicht nahm,
bloß, weil mein Bargeld leer war,
als ich den Bordstein nicht sah,
bloß, weil’s keine Sonne mehr gab,
als mein Handy ohne Saft blieb,
weil jede umliegende Wand steckdosenfrei war,
als mein Magen ohne Saft blieb,
weil ich allergisch gegen Saftblechdosenblei war,
als ich gestern nicht mehr hatte,
weil es schon übermorgen war,
und als ich keine große Schwester hatte,
weil ich erstgeboren war,
als ich dich nicht traf,
weil du schon weggelaufen warst,
als ich den Käse nicht aß,
weil er heimlich abgelaufen war,
als ich den Kinofilm nicht sah,
weil er nicht angelaufen war,
als ich 3 Stunden, nachts,
am Rande des Wahnsinns saß,
und als ich alle 3 Sekunden,
jeden Huster bei Facebook las
– nur, um zu merken, dass du mir nicht schriebst –
da wollte ich endlich unabhängig sein.

Es ist doch fast abartig,
von wie vielen Sachen wir abhängig sind!
Um nur ein paar Beispiele zu nennen:
Wir sind abhängig
von Anerkennung, von Spracherkennung,
von Hygieneartikeln, von Geruchspartikeln,
von Jahreszeiten, von Tageszeiten,
von Tageszeitungen und dem, was sie schreiben,
von Wegbegleitern, Karriereleitern,
von Kugelschreibern und davon, ob sie schreiben,
von Genen, gestern, Grenzen, Gesetzten,
Geräten, Gesundheit, der Gema und Gefühlen,
von Koffein, von Tein,
von Trends, vom Tetrisspielen,
von Richtigkeit der Dinge im Allgemeinen
und Richtigkeit der Dinge im All,
von Spaß und Sprache,
von Straßen und Stau,
von Wetter, Wirtschaft,
Verwandtschaft und Glauben,
von Internet, vom Intellekt,
von Infrastrukturen, von Hundewurmkuren,
von der Evolution, unsrer Genration,
von Inspiration und Transpiration,
von Eltern, vom Altern,
von den anderen und von Ampeln,
von allen biochemischen, komischen Vorgängen
in unseren verdammten Körpern,
von der Bedeutung unsrer Handlung,
von der Bedeutung unsrer Wörter,
von der pünktlichen, intakten Drehung der Welt,
von Liebe und Strom und Luft,
von Zucker und Wetter und Geld.

Von all dem will ich endlich unabhängig sein!
Also verfasste ich gestern Nacht die folgende Schrift:

"Unabhängigkeitserklärung. Ich, Julia Engelmann, proklamiere heute, am 3.7.2015, meine Loslösung von allem, was mich abhängig macht, darunter auch Wetter, Geld, Gestern, Strom und du, und mein Recht, meine eigene souveräne Persönlichkeit und Instanz zu bilden der folgende, von mir alleine in wirrer Umnachtung verabschiedete Text ist vielleicht eines der wirkungsmächtigsten Dokumente meines Schaffens:

Ich erkläre hiermit meine eigene Unabhängigkeit,
den ersten Tag vom Rest meines Lebens,
meine Stunde Null.

Julia Engelmann: Jede Woche, Baby!

Wurde 1992 geboren, wohnt in Bremen und studiert heute Psychologie. Seit einigen Jahren nimmt sie regelmäßig an Poetry Slams teil. Ein Video ihres Vortrags "One Day" beim Bielefelder Hörsaal-Slam wurde 2014 zum Hit im Netz und bisher millionenfach geklickt, geliked und geteilt. Anfang 2014 ging sie mit Tim Bendzko auf Tour. Neben dem Slammen gilt ihre Leidenschaft der Musik und der Schauspielerei - mehr als zwei Jahre spielte sie in der Soap "Alles was zählt" mit. Ihr Buch "Eines Tages, Baby" ist 2014 im Goldmann Verlag erschienen und schaffte es Anfang 2015 auf die "Spiegel"-Bestseller-Liste. (Foto: Marta Urbanelis)

Alles was war, ist ein Teil von mir,
und alles was kommt wird es werden.
Mein größter Teil ist im Jetzt und im Hier,
und an diesem Ort bin ich gerne.
Und von diesem Ort will ich lernen,
an diesem Ort will ich etwas werden.

Ich bin mein Recht auf Freiheit, auf Freizeit,
auf Leben, auf das Streben nach Glück,
nichts außer mir hält mich jemals zurück.
Ich bin mein Maß der Dinge,
auch wenn das zu sagen vermessen ist,
ich bin das Lied das ich singe,
auch wenn das bald schon vergessen ist.
Ich bin meine Wahrheit, mein Ziel,
meine Exekutive, meine oberste Instanz.
Ich bin meine Erwartung, Entwicklung,
ich bin der Takt für jeden Tanz.
Ich bin mein eigenes Naturgesetz.
Ich bin mein Schutz und bleibe unverletzt.
Ich bin das Perpetuum mobile
eins Punkt eins.
Das Herz das für mich schlägt ist
meins nur meins.

Ich bin die einzige Seele, der ich Treue schwöre.
Ich bin die einzige Peer Group, der ich angehöre.
Ich bin mein einziger Wohnsitz, mein Zuhause.

Ich bin der einzige Puls, den ich immer schlage.
Ich bin der einzige Wunsch, den ich immer habe.
Ich bin nicht mein Gott, aber mein Glaube."

Aber als ich nicht mehr abhängig war,
war ich gar nicht mehr.
Das jagte mir einen gehörigen Schrecken ein.
In Wahrheit werde ich immer abhängig sein.
Ich will es auch bleiben, wenn das bedeutet,
dass ich dafür ein Teil des Ganzen bleibe.

Ob du mir ne Nachricht schreibst,
Strom, Geld, Wetter und Zeit,
all das kann ich nicht lenken,
aber alles, was nur mich betrifft,
was in meinem Kopf los ist,
das kann ich selber denken.

Glück ist vielleicht nur echt, wenn man es teilt.
Von Freiheit sind immer auch Grenzen ein Teil.
Aber trotz allem kann ich unabhängig sein.

Als ich durch den Regen ging,
und dafür nen Schirm aufspannte,
als ich mal dagegen ging,
weil ich meine Rechte kannte,
als ich lachte,
weil mich ein Spaß amüsierte,
als ich dachte,
weil mich der Kram interessierte,
als ich wachblieb,
weil ich nicht schlafen wollte,
als ich mir nahm,
was ich gern haben wollte,
als die Party bis früh in den Morgen genial war,
weil ich entschied doch noch zu bleiben,
als was mir passierte und meine Sorgen egal warn,
weil ich entschied glücklich zu sein,
als ich mich aus Facebook ausloggte,
wofür es endlich an der Zeit war,
da konnte ich etwas unabhängig sein.

Glück ist vielleicht nur echt, wenn man es teilt.
Von Freiheit sind immer auch Grenzen ein Teil.
Aber trotz allem kann ich unabhängig sein.

Mein Soundtrack zum Text: "Arrival in Nara" von "Alt-J".

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