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Kardinal Woelki: Caritas et furor "Wir schaffen das" - eine Einstellung, die schon die NS-Ideologie beiseite schob

"Ja, ich denke, wir schaffen das!“ - oder ein Essay über das Maß an Humanität, Solidarität und Liebe, das in einer Gesellschaft gelebt wird.

"Alle Wunder dieser Welt entstehen dadurch, dass einer mehr tut, als er tun muss." Dieser Satz von Hermann Gmeiner, dem Gründer der SOS Kinderdörfer, kam mir in den Sinn, als ich in der Zeitung die Geschichte einer aus Syrien nach Hamburg geflüchteten Familie las. Der Bericht fokussiert insbesondere den Weg der heute 20-jährigen Roubina Berberian zum Abitur. "Kriegen wir das hin?", fragte der Direktor der Sankt-Ansgar-Schule im Hamburger Stadtteil Borgfelde, als er vor vier Jahren mit seinem Mittelstufen-Koordinator Roubinas dringenden Wunsch beriet, das Abitur machen zu dürfen. Roubina sprach nur wenige Worte Deutsch. "Ja, ich denke, wir schaffen das", war damals die Antwort des Koordinators; die guten Noten in den syrischen Zeugnissen und sein positiver Eindruck von der Schülerin hatten ihn überzeugt.

Dass ein solcher Satz über den Lebensweg der Abiturientin entschieden hat – sie steht mittlerweile mit einem bestandenen Abitur am Beginn eines aussichtsreichen Berufslebens –, das rührt mich an. "Wir schaffen das", sagte der Lehrer – und nahm den historisch gewordenen Satz von Bundeskanzlerin Merkel bereits vorweg. Aus Roubinas Geschichte schimmern eine Haltung und ein Geist durch, die gerade in diesen Tagen, in denen vor allem diejenigen lauter werden, die nie daran geglaubt haben, dass wir das schaffen, nicht in den Hintergrund treten darf: Bleiben wir in unserer christlich-abendländisch geprägten Gesellschaft sensibel dafür,dass wir das Maß, ja die Höhe unserer Kultur nur halten, indem wir den gesicherten und gesetzten Rahmen immer auch auf Hoffnung hin überschreiten?

Einsatz für Menschen eröffnet neue Lebenswege

Rainer Maria Kardinal Woelki: Caritas et Furor

Im alten Kirchenlied war noch von "Caritas et Amor" die Rede, heute begleiten Kölns Kardinal in seinem Glauben auch die "Nächstenliebe" und manchmal der "Zorn". Rainer Maria Woelki, Jahrgang 1956, kann sich lediglich über Fehlpässe seines FC ähnlich echauffieren wie über Ungerechtigkeiten und Fouls in unserer Gesellschaft. Er weiß, dass das Kirchenschiff manchmal durch schwere Wetter muss, aber das hindert ihn nicht, einen weiten Horizont im Blick zu halten. Hier schreibt er über ewige Wahrheiten für Menschen mit wenig Zeit.

Menschen wie Hermann Gmeiner haben es vorgemacht: Kluger Einsatz für Menschen in "an sich" aussichtslosen Lebenssituationen eröffnen neue Lebenswege. Und Klugheit umfasst immer auch Hoffnung und Vertrauen. Diese Erkenntnis gehört nicht nur zur Biographie eines selbstlosen Menschenfreundes, sondern grundsätzlich zur deutschen Kulturgeschichte. Auch Goethe kannte den Zusammenhang von Vertrauen und dem daraus entstehenden Selbstvertrauen: Man mache, so der Dichterfürst, einen Menschen schlechter als er ist, wenn man ihn so behandelt, wie er erscheint; behandele man jemanden aber so, als sei er bereits, was er sein könnte, so helfe man ihm zu sein, was er sein soll. Eine Psychologie des Vertrauens ist für Goethe also notwendig eine Psychologie des Wachstums.

Das ist das Paradox jeder guten Pädagogik: in lernbereiten Menschen bereits mehr zu sehen, als sie "de facto" gerade sind oder zu leisten vermögen, und gerade durch die Sicht auf diese Möglichkeiten beizutragen, dass sie sich auch tatsächlich entsprechend entwickeln. Das hat mehr als nur einen Schuss "Irrationalität".

Jede gute Pädagogik ist ein Übersteigen der Wirklichkeit auf eine nicht sichere, aber mögliche Zukunft hin – und ist in diesem "Übersteigen" der Haltung expliziter Religiosität nicht unähnlich. Denn auch Religiosität übersteigt die Wirklichkeit ja auf eine geglaubte Wirklichkeit hin.

Über das christliche Vertrauen und über Hoffnung

Die christliche Religion sieht in jedem Menschen Möglichkeiten, die er nicht nur mitbringt, sondern auf die hin er sich entfalten kann. Daher rührt auch der vielfältige Beitrag beider Kirchen für das Bildungswesen in unserer Gesellschaft. Darin liegt aber auch unsere christlich-abendländische Kultur begründet, wie sie die Mütter und Väter unserer Verfassung ins Grundgesetz geschrieben haben. "Ja, wir schaffen das" – das war auch ihre Einstellung, als sie die Trümmer der nationalsozialistischen Ideologie beiseite räumten, um auf christlich geprägten Grundwerten ein neues Gemeinwesen aufzubauen. Und "wir schaffen das" war auch die unhinterfragte, ebenso selbstverständliche wie selbstlose Haltung bei der Eingliederung der Millionen Flüchtlinge, die nach dem Krieg ihre Heimat in Deutschland suchten. Auch meine eigene Biografie ist Teil dieser Geschichte.

Christlich-abendländischer Geist, christlich-abendländische Kultur zeigen sich deshalb in dem Maße, in dem Humanität und Solidarität in einer Gesellschaft gelebt werden, gesellschaftlich wie im privaten Bereich jedes Einzelnen. Und – gottlob!, es geschieht auch heute Tag für Tag von Neuem: das Wunder, wenn einer mehr tut als er muss. Roubina Berberian hat es erfahren.

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