Am Wochenende hat ein Mann seine vierjährige Tochter entführt, mit einem Auto eine Absperrung des Hamburger Flughafens durchbrochen und erst nach 18 Stunden Verhandlungen aufgegeben. Offenbar wollte er sein Kind wegen eines Sorgerechtsstreits in die Türkei bringen. Auch, wenn die meisten Fälle nicht so spektakulär verlaufen: Selten sind Kindesentführungen wegen Streit ums Sorgerecht in Deutschland nicht. Die Statistik des Bundesamtes für Justiz zählt für 2021 ganze 220 Fälle, in denen Kinder aus Deutschland in andere Länder gebracht werden sollten. Ob bei den verzeichneten Fällen um jeweils ein Kind oder etwa zwei oder mehr Geschwister ging, geht aus der Statistik nicht hervor. Das häufigste Ziel von Kindesentziehungen war 2021 die Türkei (29 Fälle) vor Frankreich (21), Polen (19), die USA (15) und Russland (11). Aus dem Ausland nach Deutschland gebracht werden sollten 2021 Kinder aus 41 Ländern. Die meisten der 139 Fälle verzeichnet die Statistik für Kinder aus Polen (19), England (10) und der Schweiz (9).
Für das Jahr 2022 nennt das in Deutschland zuständige Bundesamt für Justiz (BfJ) auf stern-Anfrage 187 Fälle von Kindesentziehungen von Deutschland ins Ausland. Die Zahlen zeigen allerdings kein vollständiges Bild, wie das Bundesamt betont. Denn: Nur die dem Amt gemeldeten Fälle werden erfasst. Eltern können sich aber auch beispielsweise direkt an Justizbehörden im Ausland wenden, um ihre entführten Kinder zurückzubekommen. Die meisten Kinder sollten laut BfJ in die Türkei (22 Fälle), nach Rumänien (16) oder nach Polen (15) gebracht werden. Im gleichen Zeitraum sollten die meisten Kinder aus der Ukraine (23 Fälle), Polen (15) sowie England und Wales (9) nach Deutschland gebracht werden.
Mütter stecken meist hinter Kindesentziehung
In allen vom BfJ registrierten Fällen ging es um einen Sorgerechtsstreit. Das Amt erfasse die persönlichen Verhältnisse in solchen Fällen nicht fortlaufend statistisch. International aber zeige die Statistik, dass in drei von vier der erfassten Vorgänge "die Mütter die Kindesentziehung vornehmen" – also 75 Prozent Frauen gegenüber 25 Prozent Männer. "Dies entspricht den hiesigen Erfahrungswerten", schreibt das Amt dem stern. Die Fallzahlen zu Kindesentziehungen von Deutschland ins Ausland seien "in den zurückliegenden Jahren weitgehend konstant (2022: 187; 2021: 220; 2020: 209; 2019: 218; 2018: 241)". Eine Einschätzung zur Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle kann das Amt nicht abgeben. Aber auch die offiziellen Zahlen zeigen: Jeden zweiten Tag verschwindet ein Kind aus Deutschland durch ein Elternteil.
Quellen: Statistik 2021 des Bundesjustizamtes, Statistik 2022 des Bundesjustizamtes, stern-Anfrage an das Bundesamt für Justiz, Tätigkeitsbericht 2022 des BfJ.