Prozessauftakt "NSU 2.0"-Drohschreiben: Angeklagter bestreitet Vorwürfe – und zeigt obszöne Gesten

Prozess um "NSU 2.0"-Drohschreiben in Frankfurt am Main begonnen
Der Angeklagte und mutmaßliche Verfasser der "NSU 2.0"-Drohschreiben zeigt zu Beginn des Prozesses vor dem Frankfurter Landgericht auf der Anklagebank obszöne Gesten
© Arne Dedert / DPA
Sehen Sie im Video: "NSU 2.0"-Drohschreiben – Angeklagter bestreitet Vorwürfe und zeigt Mittelfinger.




In Frankfurt hat am Mittwoch der Prozess um die sogenannten "NSU 2.0"-Drohschreiben begonnen. Einem 53-jährigen Berliner wird vorgeworfen, seit 2018 mehr als 100 Texte verschickt zu haben. Zu den Bedrohten gehörten Politiker, Juristen und Medienschaffende, aber auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier. Bei den meisten Bedrohten handelte es sich um Frauen. Der Angeklagte selbst bestreitet die Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es sich bei den Angeklagten um einen Einzeltäter handelt. Vor Ort war Elisabeth Kula, Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Hessischen Landtag. Auch sie äußerte sich zur Einzeltäterannahme. "Wir stehen hier, um ein politisches Zeichen zu setzen, zum einen zur Unterstützung der von rechter Gewalt und rechtem Terror und Drohungen Betroffenen und zum anderen um zu zeigen, das ist auch eine politische Frage. Weder der NSU noch der NSU 2.0 waren Einzeltäter, sondern hatten Unterstützungsumfelder. Und das muss aufgeklärt werden." Ähnlich sehen das sechs NebenklägerInnen, darunter die ebenfalls bedrohte Rechtsanwältin von Familien der NSU-Opfer, sowie die Bundestagsabgeordnete der Linken, Martina Renner. Im Laufe der Ermittlungen wurden Vermutungen laut, der Täter könnte ein hessischer Polizist sein, da er über private Daten der Bedrohten verfügte. Einige dieser Daten waren über Polizeicomputer in Frankfurt und Wiesbaden aufgerufen worden. Die Staatsanwaltschaft vermutet inzwischen, dass sich der Angeklagte als Polizist ausgegeben und vermeintliche Kollegen um Hilfe gebeten hatte. Während der Ermittlungen waren Polizeibeamte zudem auf 47 rechte Chatgruppen innerhalb der hessischen Polizei gestoßen. Gegen einige Beteiligten wurden Ermittlungen eingeleitet. Im Zuge des Skandals wurde das Spezialeinsatzkommandos Frankfurt aufgelöst.
Vor dem Frankfurter Landgericht hat der Prozess um die "NSU 2.0"-Drohschreiben begonnen. Die Briefe enthielten rassistische Beleidigungen und Todesdrohungen. Der Angeklagte provozierte die anwesenden Medienvertreter.

Mit der Verlesung der Anklage hat am Mittwoch vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Prozess um eine Serie von Drohschreiben mit der Unterschrift "NSU 2.0" begonnen. Der 54-jährige Angeklagte Alexander M. soll zwischen Anfang August 2018 und Ende März 2021 per E-Mail, SMS oder Fax insgesamt 116 Drohschreiben mit volksverhetzenden, beleidigenden und drohenden Inhalten an Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschickt haben. Unterschrieben waren diese mit dem Synonym "NSU 2.0". Das Kürzel nimmt Bezug auf die rechtsextremistische Zelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Konkret wirft die Anklage M. neben 67 Fällen von Beleidigung versuchte Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung, das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und öffentliche Aufforderung zu Straftaten vor.

"NSU 2.0": Angeklagter bereits wegen Amtsanmaßung verurteilt

Zudem werden ihm tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie ein Verstoß gegen das Waffengesetz zur Last gelegt. Lange Zeit stand in dem Fall die hessische Polizei selbst unter Verdacht, weil die nicht frei zugänglichen Daten der Betroffenen von Computern der Polizei abgerufen wurden. Die Daten soll sich M. telefonisch erschlichen haben. Er ist den Ermittlern zufolge vorbestraft und wurde zuletzt 2014 verurteilt. Bereits im Jahr 1992 hatte er sich demnach als Kriminalbeamter ausgegeben und wurde in diesem Zusammenhang wegen Amtsanmaßung verurteilt.

Vor dem Beginn des Prozesses streckte M. den anwesenden Fotografen und Kameraleuten am Mittwoch beide Mittelfinger entgegen. Rund drei Stunden lang las Staatsanwalt Sinan Akdogan die Drohschreiben in kompletter Länge vor. In vielen Mails wurden die gleichen Formulierungen benutzt. Die Drohbriefe, die häufig in Form eines behördlichen Schreibens oder eines Gerichtsurteils verfasst waren, habe der erwerbslose Mann regelmäßig mit "Heil Hitler" unterzeichnet, sich selbst habe er "SS-Obersturmbannführer" oder nach den Mitgliedern des NSU Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt genannt.

In Drohschreiben ist von "Tag X" die Rede

Er habe den Adressaten unter anderem mit Worten wie "verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst" gedroht oder damit, dass Familienangehörige "mit barbarischer, sadistischer Härte abgeschlachtet" würden. In einem Drohschreiben habe er mit Planungen für einen "Tag X" gedroht. "Der Angeklagte nahm billigend in Kauf, den öffentlichen Frieden, mit der Aussage, die Planungen für einen Tax X liefen auf Hochtouren, zu stören", sagte Akdogan. Zudem soll M. mehrere Bombendrohungen an Gerichte und an die Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen verschickt haben. Der Angeklagte ist den Ermittlern zufolge vorbestraft und wurde zuletzt 2014 verurteilt. Bereits im Jahr 1992 hatte er sich als Kriminalbeamter ausgegeben und wurde in diesem Zusammenhang wegen Amtsanmaßung verurteilt.

Ermittler identifizieren "PI-News"-Nutzer

Auf seine Spur kamen die Ermittler nach eigenen Angaben durch akribische Ermittlungsarbeit vor allem in Internetblogs und -foren. auf der Plattform "PI-News" stieß die Polizei auf einen Nutzer, dessen Beiträge in Form und Duktus Ähnlichkeiten mit den "NSU 2.0"-Drohschreiben aufwiesen. Anfragen beim Betreiber der Schachplattform zu den verdächtigen Profilen sowie Bestandsdatenabfragen bei Telefonanbietern führten schließlich im April 2020 zur Identifizierung des Verdächtigen. Über Internetrecherchen wurde dann auf einer Schachplattform ein namensgleiches Profil gefunden – weitere wurden über die genutzte IP-Adresse entdeckt. Aus den Drohschreiben und den Onlinekommentaren ergaben sich zudem zahlreiche Bezüge zu Berlin und dort zum direkten Wohnumfeld des Beschuldigten.

Auch Linken-Politikerin zählt zu den Opfern

Zu den Opfern der Drohschreiben zählten überwiegend Frauen wie die damalige hessische Linken-Fraktionschefin Janine Wissler sowie die Kabarettistin Idil Baydar und die bekannte Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz. Betroffen waren zudem mehrere Ermittler sowie die Satiriker Christian Ehring und Jan Böhmermann. Im Prozess werden sie als Zeugen und Geschädigte geführt. M. kündigte nach Verlesung der Anklage eine "umfangreiche Einlassung" zu den Vorwürfen am nächsten Prozesstag am Donnerstag an. Die Vorwürfe wolle er "nicht unkommentiert im Raum stehen lassen". Bis Ende April sind noch 13 weitere Verhandlungstermine angesetzt.

AFP
mth

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