Als die Emotionen hochkochten, blieb der junge Osama ganz besonnen. Der Schlacks, der wegen seiner Körperlänge im Sturm spielte, sollte für seine Fußball-Jugendmannschaft aus dem saudi-arabischen Dschidda möglichst viele Kopfballtore erzielen. Bei einem Auswärtsspiel geriet er mit einem Gegner aneinander. Der wütende Spieler beschimpfte den jugendlichen Osama bin Laden, und es sah so aus, als werde er ihn schlagen - da ging Mannschaftskapitän Khaled Batarfi dazwischen und schubste den aufgeregten Gegenspieler weg. Osama bin Laden hatte das wohl nicht gewollt, und er sagte zu seinem Nachbarn und Kapitän Batarfi: "Ich war gerade dabei, diese Sache friedlich zu regeln."
Chiffre für den internationalen Terror
Autor Steve Coll berichtet diese Episode aus der Jugend des heute weltweit gejagten Osama bin Laden, 51, in seinem Buch "Die Bin Ladens. Eine arabische Familie". Allerdings habe sich Osama schon als Teenager in religiösen Dingen ereifert - eine Haltung, mit der er konsequent weiterlebte. Spätestens seit dem 11. September 2001 steht sein Name als Chiffre für den internationalen islamistischen Terrorismus, seine Organisation al-Qaida war es, welche die Welt in Schrecken versetzte und bei orchestrierten Attacken das World Trade Center von New York zerstörte.
2974 Menschen starben, Bin Laden übernahm 2004 die Verantwortung für die Taten. Inzwischen hat die US-Regierung unter Präsident George W. Bush ein Kopfgeld in Höhe von 50 Millionen Dollar auf Bin Laden ausgelobt, die Gewerkschaft "Air Line Pilots Association" und der Branchenverband "Air Transport Association" haben zusätzlich zwei Millionen Dollar Belohnung ausgeschrieben. Doch die Jagd nach dem Vordenker des Terrors verläuft - trotz Militäroffensiven, Geheimdienst-Sonderaktionen und Satellitenaufklärung - bis heute erfolglos. Der 1,96 Meter große, hagere Mann mit den braunen Augen und dem langen Bart ist eine weltweit bekannte Ikone.
Merkwürdige Rolle von Bin Ladens Vater
Es gibt bemerkenswerte Muster im Leben des Osama bin Laden, Dinge, die für Psychologen durchaus interessant sein dürften. In seinem Buch berichtet Steve Coll über eine "verblüffende Symmetrie" zwischen dem Tod von Bin Ladens mächtigen Vater Mohammed und dem Terroranschlag von 2001, die sich beide in Septembermonaten ereigneten. "Fünfzehn der von Osama bin Laden angeworbenen Flugzeugentführer […] stammten aus der Provinz Asir", schreibt Coll - und Bin Ladens Vater war 1967 bei einem Flugzeugabsturz in der saudi-arabischen Provinz Asir gestorben, als Folge eines offensichtlichen Fehlers eines amerikanischen Piloten.
Osama war 1957 als siebter Sohn des Mohammed Awwad bin Laden geboren worden und eines von insgesamt mehr als 50 Kindern des Bauunternehmers. Der gelernte Maurer war aus dem Südjemen ins saudi-arabische Dschidda gekommen und hatte sich in der saudischen Monarchie nach oben gearbeitet. Unter König Faisal besaß Mohammed bin Laden sogar das Monopol auf alle öffentlichen Aufträge - es war die Grundlage für gewaltige Reichtümer der Familie. Osama bin Laden erlebte seinen einflussreichen Vater als Vorbild, als Mann der Tat. Steve Coll schreibt: "Mohammed bin Laden arbeitete lieber mit den eigenen Händen draußen in der Wüste und führte die aus verschiedenen Ethnien zusammengewürfelten Arbeitskolonnen durch sein persönliches Vorbild. Das sollte natürlich auch Osamas Führungsstil werden."
Ein religiöser Überzeugungstäter
Osama bin Laden ist ein religiöser Überzeugungstäter und war dies schon früh in seinem Leben. Schon als Teenager, inspiriert von einem politisierten syrischen Lehrer, vertrat Bin Laden die Ansichten eines islamistischen Aktivisten, und ließ sich einen Bart wachsen. Der Sunnit diskutierte mit anderen jungen Männern über die islamische Rechtsordnung. Die saudische Religionspolizei "Mutawwa" lehnte später seine Bewerbung ab, weil Bin Ladens Ansichten zu extrem und vermeintlich oppositionell waren, weil er auch mit den als Umstürzlern verschrienen Muslimbrüdern sympathisierte. Die Schriften des ägyptischen Muslimbruders Sayyid Qutb sollen Bin Laden maßgeblich inspiriert haben.
Osama wählte schon früh und aus Überzeugung einen ganz anderen Lebensstil als ein großer Teil seiner Familie, deren Jet-Set-Leben im Zuge des Reichtums in Steve Colls Buch detailliert beschrieben ist. Osamas Halbbruder Salem beispielsweise feierte in Südflorida ausschweifende Feste. Man reiste von Amerika nach London, nach Südfrankreich, zum Skifahren nach Kitzbühel, zum Entspannen nach Marbella, zum Feiern nach Kairo. Das Leben - eine dauerhafte Party an den exklusivsten und teuersten Orten der Welt. Die Bin Ladens wurden, schreibt Coll, "zu arabischen Pionieren im Zeitalter der Globalisierung". Doch Osama wählte einen anderen Weg.
Zwischen 25 und 40 Kinder
Mit 15 Jahren war Osama schon Geschäftsführer im Unternehmen seines Vaters. Er soll mit 22 Jahren seinen Abschluss als Ingenieur für Hoch- und Tiefbau gemacht haben, manche Quellen indes bezweifeln dies. Er soll fünfmal verheiratet sein und 25 bis 40 Kinder gezeugt haben.
International gefahndet wird nach Osama bin Laden seit dem 16. April 1998 in Folge eines Mordes, der sich 1994 in Libyen zugetragen hatte. Am 10. März 1994 kamen der deutsche Geheimdienstmitarbeiter Silvan Becker und seine Frau Vera auf bis heute ungeklärte Weise in Nordafrika ums Leben. Becker arbeitete für den Bundesverfassungsschutz. Das Regime von Muammar al-Gaddhafi in Tripolis ließ über Interpol Jahre später nach Bin Laden suchen, weil es in ihm den Hintermann der Bluttat sah.
Bin Ladens Organisation al-Qaida war da schon eine feste Größe im internationalen Terrorismus. Das Netzwerk hat seine Wurzeln in Afghanistan. Bin Laden war kurz nach der sowjetischen Invasion am Hindukusch dorthin gegangen und hatte sich dem islamischen Vorkämpfer Abdullah Al-Azzam angeschlossen. Bin Laden tat sich, auch mit Hilfe seiner Familie, als Sponsor der afghanischen Mudschaheddin gegen die kommunistische Militärmacht hervor. Ab 1984 "strukturierten Al-Azzam und Bin Laden diese Hilfe, indem sie ein Netzwerk von Rekrutierungs- und Geldsammelbüros in der arabischen Welt, in Europa und in den USA einrichteten", berichtet der Forschungsdienst des amerikanischen Kongresses. Anfangs hieß diese Einrichtung "Makhtab Al-Khidamat" (Dienstbüro). Mit Unterstützung des saudischen Geheimdienstes und Wohlwollen sowie finanzieller Unterstützung der USA kämpften die Gotteskrieger gegen die UdSSR. Auch Bin Laden griff wohl persönlich ein, beispielsweise 1987 bei einem Frontalangriff auf einen russischen Panzer.
Bin Laden musste entscheiden: Was passiert mit al-Qaida?
Als die Sowjetunion aus Afghanistan vertrieben war, stellte sich die Frage, was mit der inzwischen mächtigen Organisation nun anzustellen sei - 10.000 bis 20.000 Kämpfer sollen damals auf Bin Laden und Al-Azzam gehört haben. Zwischen den beiden Vordenkern gab es inhaltliche Differenzen, doch als Al-Azzam 1989 einem Anschlag zum Opfer fiel, rückte Bin Laden an die Spitze der Organisation, die seit 1988 den Namen "al-Qaida" (Basis, Stützpunkt) trägt.
Die Organisation, die nach dem gewonnenen Kampf in Asien neue Ziele brauchte, hat viel Leid verursacht. Bin Laden und seine Männer haben an vielen Schauplätzen mitgemischt: So sollen sie beim ersten Bombenanschlag auf das World Trade Center 1993 mitgewirkt haben. Sie unterstützten somalische Kämpfer bei ihren Scharmützeln gegen die USA und sollen einen Anschlag auf den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak geplant haben. Auch die Planung der Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi mit 300 Toten im Jahre 1998 und der Anschlag auf den US-Flugzeugträger Cole mit 17 toten Soldaten 2000 soll auf ihr Konto gehen.
"Eindruck von Bildung und Kompetenz"
"Ich lenke mein Streitross und werfe mich mit ihm ins Getümmel wie ein Ruder in die Flut." Solche lyrischen Zeilen schrieb Osama bin Laden 1996 in ein Postulat, das er per Fax an arabische Zeitungen schickte. Überschrieben war es mit dem Titel "Vertreibt die Heiden von der Arabischen Halbinsel". Der Islamwissenschaftler Peter Heine von der Berliner Humboldt-Universität analysiert, Bin Laden versuche mit Versatzstücken aus der klassischen arabischen Literatur, Geschichtsschreibung und der islamischen Theologie "bei seinen Adressaten den Eindruck von Bildung und Kompetenz in einem weiten kulturellen Rahmen zu erzeugen". Doch Bin Ladens Ideologie ist militant. Im Februar 1998 vertrat er die "Islamische Weltfront für den heiligen Krieg gegen Juden und Kreuzfahrer". Als selbst ernannter Mullah erließ er sogar ein religiöses Gutachten ("Fatwa"), in der er zur Tötung von Amerikanern in aller Welt aufrief. In Bin Ladens Weltsicht gibt es strikte Regeln: Er toleriert keine Musik an religiösen Orten, verschmäht künstlich gekühltes Wasser, begrüßt aber den Einsatz von genetisch verändertem Saatgut.
Seit dem 11. September wartet die Welt auf die Meldung von der Gefangennahme des Islamisten. Die USA zogen gemeinsam mit internationalen Partnern in den Krieg gegen die Taliban in Afghanistan, weil sie angeblich Bin Laden versteckt hielten. Doch sieben Jahre später ist der Terroristen-Boss noch immer nicht gefasst. Zuletzt vermutete man ihn in der Region Wasiristan im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Doch auf der pakistanischen Seite der Grenze werden die US-Truppen vorerst nicht stöbern dürfen. Pakistans Außenminister Mahmoud Qureshi erteilte ausländischen Suchtrupps auf seinem Territorium kürzlich eine Absage. Dreimal wurde Bin Laden übrigens schon als tot gemeldet - im April 2005, im August 2006 und im November 2007. Bestätigungen gab es nie.
Kein Auslaufmodell
Einstweilen bleibt Osama bin Laden also flüchtig, und Experten warnen davor, ihn als Auslaufmodell abzuschreiben. "Er ist klüger, talentierter und immer anziehender für eine neue Generation, die besser ausgebildet ist - vor allem in technologischer Hinsicht", glaubt der einstige CIA-Agent Michael Scheuer. Die bisherigen Erfolge, die Internierten in Guantanamo, das alles sei nicht ernst zu nehmen. "Jetzt haben wir die Leute in grauen Anzügen, die keine Aufmerksamkeit erregen und sehr gerissen sind."
Vor allem findet Scheuer, dass man Bin Laden wegen seines Äußeren nicht unterschätzen dürfe. Wer den Gegner als rückständigen Idioten ansehe und zugleich zwei Kriege gegen ihn verliere, könne bald zum Opfer seiner eigenen Arroganz werden. Auch der Sicherheitsexperte Peter Bergen ist überzeugt, dass Bin Laden noch immer die ideologische und strategische Kontrolle über al-Qaida besitze. Und der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, sagt: "Als Ideengeber und Ikone ist er noch immer so etwas wie der Che Guevara von al-Qaida." Wer glaubt, dass der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus des Osama bin Laden bald Geschichte sei, sollte vorsichtig bleiben. Ex-CIA-Mann Scheuer jedenfalls ist besorgt: "Meine Ansicht ist, dass unsere Außenpolitik gegenüber der arabischen Welt der einzige Alliierte ist, der für Osama Bin Laden unverzichtbar ist."