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Jahresbericht von Save the Children Gewalt in Krisengebieten: "In Afghanistan gibt es kein einziges Kind, das nicht im Krieg geboren ist"

Afghanische Kinder in einem Flüchtlingscamp in Kabul
Afghanische Kinder in einem Flüchtlingscamp in Kabul (Foto aus dem Jahr 2017)
© Haroon Sabawoon/ / Picture Alliance
Jedes sechste Kind auf der Welt lebt in einem Krisengebiet, zeigt der Jahresbericht der Kinderrettungsorganisation Save the Children. Der stern sprach mit Geschäftsführerin Susanna Krüger über die Gewalt, die Kinder weltweit erleben, und die deutsche Verantwortung.

In dieser Woche hat die Kinderrechtsorganisation Save the Children ihren Bericht "Krieg gegen Kinder" vorgestellt. Nach Angaben der Organisation handelt es sich um die bisher umfassendste Datensammlung zu Kindern in Kriegen und Konflikten. Die Zahlen sind erschreckend: Im Jahr 2018 lebten weltweit 415 Millionen Kinder in einem Konfliktgebiet, das ist jedes sechste Kind auf der Welt. 12.125 Kinder wurden in dem Jahr in Konflikten getötet und verstümmelt.

Während Jungen häufiger in direkten Kriegshandlungen schwer verletzt oder getötet werden, werden Mädchen meist Opfer sexueller Gewalt. Besonders gefährlich für Kinder sind die Länder Afghanistan, Syrien und Nigeria. Aber auch im Kongo, Irak, Jemen, Mali, Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik kommt es extrem oft zu Gewalt gegen Kinder.

Der stern sprach mit Susanna Krüger, Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland, über Kinder im Krieg, ihre eigenen Erlebnisse in Krisengebieten und die deutsche Verantwortung.

Kinder in Kriegsgebieten: "Sie haben Angst, auf dem Weg zur Schule zu sterben"

Frau Krüger, wie stufen Sie die Zahlen des aktuellen Berichts ein?

Susanna Krüger: Seit 2010 steigt die Zahl der Kinder, die weltweit von Konflikten betroffen sind. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es aber eine gute Entwicklung: Damals war noch jedes fünfte Kind weltweit betroffen, in diesem Jahr nur noch jedes Sechste. Im Ganzen sind es aber immer noch 415 Millionen Kinder, hinter denen 415 Millionen Schicksale stehen. Die Gesamtzahl ist also über einen längeren Zeitraum steigend, auch wenn sie im Vergleich zum letzten Jahr rückläufig ist.

Wie lassen sich diese Entwicklungen erklären?

Es gibt viele Konflikte, zum Beispiel in Afghanistan, dem Kongo, Irak oder Jemen, die länger anhalten als früher. Dort kämpft nicht mehr ein Staat gegen den anderen, sondern viele unterschiedliche Warlords gegeneinander. Das führt dazu, dass es kein Kriegsrecht mehr gibt, das eingehalten wird. Es werden wesentlich mehr Zivilisten angegriffen, auch Schulen und Krankenhäuser.

Susanna Krüger von Save the Children
Susanna Krüger (3.v.l.) bei ihrem Besuch in Afghanistan im Oktober 2019
© Save the Children

In Afghanistan werden die meisten Kinder getötet oder verletzt. Woran liegt das?

Der Krieg dort dauert schon 18 Jahre. Das bedeutet, dass es kein einziges Kind in Afghanisten gibt, das nicht im Krieg geboren wurde. Es ist ein langer, langer Konflikt, der mit Zwangsrekrutierung von Kindern einhergeht, mit sexuellem Missbrauch von Mädchen und mit Angriffen auf zivile Einrichtungen. Nach der Stationierung der Amerikaner sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch. Die Konflikte innerhalb der Gesellschaft sind wieder stärker geworden, die Sicherheitslage ist sehr schwierig.

Sie haben das Land selbst im vergangenen Jahr besucht. Wie war Ihr persönlicher Eindruck?

Ich habe viele Kinder gesehen, die Angst haben, zur Schule zu gehen, weil sie befürchten, auf Landminen zu treten. Sie haben Angst, auf dem Weg zur Schule zu sterben. Als ich dort war, sind innerhalb einer Woche in Kabul zwei Bomben hochgegangen. Die größte Gefahr, speziell für die Kinder, ist der Terror der Taliban. Außerdem ist der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sehr schwierig, ebenso wie der Zugang zu Bildung, vor allem für Mädchen.

Was haben die Kinder, die Sie dort besucht haben, erlebt?

Die Gefahr, von terroristischen Angriffen getroffen zu werden, ist natürlich hoch. Ich habe ein Mädchen getroffen, das einige Jahre zuvor einen Säureangriff der Taliban in ihrer Schule überlebt hatte. Die Taliban wollen nicht, dass Mädchen zur Schule gehen und arbeiten dann mit Säure.

Welche Schäden hinterlassen solche Erlebnisse, abgesehen von den körperlichen Verletzungen, bei den Kindern?

Die Kinder haben Angst, sie bleiben in ihrer Entwicklung zurück. Das, was wir in unseren Schulen und Kindergärten erleben, sind massive psychosoziale Belastungsstörungen, Ängste, Schlaflosigkeit, Weinen. Wir versuchen, dem mit psychosozialer Betreuung entgegenzuwirken und ihnen einen Platz zu geben, an dem sie ein paar Stunden am Tag Kind sein können.

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Sie haben im vergangenen Jahr auch Somalia und den Jemen besucht. Wie unterscheidet sich die Lage dort von der Situation in Afghanistan?

In Somalia ist die Lage weniger gefährlich im Sinne von kriegerischen Auseinandersetzungen. Dort sind eher Hunger und Dürre das Problem, da geht es ums absolute Überleben. Im Jemen herrscht noch mal eine ganz andere Gemengelage. Das ist ein großer, vergessener Krieg aus der Luft. Als ich dort war, hatten wir jeden Tag Bombenangriffe.

Kann man generell sagen, was es für die Zukunft dieser Länder bedeutet, wenn eine ganze Generation von Kindern so viel Gewalt erlebt?

Dort wachsen verlorene Generationen heran. Wir arbeiten auch in Syrien, dort gibt es viele gestörte und verletzte Kinder. Die Kinder bekommen keine Schulbildung, sie leben zudem in Familien, die natürlich unter großem Stress stehen. Das ist eine sehr große Belastung für die Zukunft. Das wissen natürlich auch diejenigen im Land, die dafür verantwortlich sind – und es schert sie nicht.

Gibt es Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lage?

Es kommt immer auf die Länder an. In Somalia zum Beispiel haben wir in einigen Teilen des Landes sehr wohl Verbesserungen. Im Jemen sehe ich keine Verbesserungen, ganz im Gegenteil. Dort tobt der Krieg seit sechs Jahren, und es wird immer schlimmer. Durch die Entstaatlichung von Kriegen gibt es immer mehr Kindersoldaten, auch die Problematik des sexuellen Missbrauchs von Mädchen wächst. Die Art und Weise der Behandlung von Zivilisten und Kindern wird schlimmer, weil immer mehr internationales Recht gebrochen wird.

Welche Möglichkeiten gibt es, aus Europa und konkret aus Deutschland einzugreifen?

Wir als Organisation erheben unsere Stimme, um die Rechenschaftspflicht der Täter erhöhen. Wir fordern die Einhaltung der Genfer Konvention und der UN-Kinderrechtskonvention. Wir gehen auch im Jemen oder in Afghanistan in die frühkindliche und kindliche Bildung, weil wir glauben, dass es selbst in solchen Ausnahmezuständen Orte braucht, an denen Kinder lernen können. Außerdem brauchen wir eine Erhöhung der Ausgaben für Kinderschutz in der humanitären Hilfe. Die sind im Moment sehr gering.

Finden Sie, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird?

Nein, das glaube ich nicht. Deutschland macht viel, das will ich nicht in Abrede stellen. Wir haben zum Beispiel eine Deklaration unterschrieben, die Bomben auf Schulen verurteilt und von vielen Ländern ratifiziert worden. Man müsste aber viel mehr darauf hinweisen, wenn Kriegsrecht und internationales Völkerrecht gebrochen wird. Die Täter müssen benannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Das passiert viel zu selten.

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