Vor dem Tsunami war Otsuchi eine ganz normale japanische Küstenstadt, ein Ziel für Surfer und Liebhaber einsamer Buchten. Doch dann kam am 11. März das Beben und anschließend eine Monsterwelle, die den 19.000-Einwohner-Ort in wenigen Augenblicken verwüstet hat. Nur ein Supermarkt und ein buddhistischer Tempel ragen aus dem Meer der Zerstörung heraus. Möglicherweise ist mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung
Selbst hartgesottene Profis zeigen sich erschüttert über das apokalyptische Ausmaß der Zerstörung. "Otsuchi erinnert mich an Osaka und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg", sagt Japans Rot-Kreuz-Präsident Tadateru Konoe. Alles sei kaputt und dem Erdboden gleichgemacht. "Es ist eine totale Katastrophe. In meinen langen Jahren beim Roten Kreuz habe ich nichts Schlimmeres erlebt." Auch Patrick Fuller vom Internationalen Roten Kreuz findet: "Schrecklicher kann es nicht sein."
2000 Leichen an Stränden gefunden
Ähnliche Bilder gibt es überall an der japanischen Nordostküste. Die Riesenwelle spülte nahezu alles weg: Häuser, Schiffe, Autos - und Menschen. Vermutlich kamen mehr als 10.000 ums Leben - allein an den Stränden der besonders hart getroffenen Präfektur Miyagi wurden 2000 Leichen gefunden.
Reuters-Fotograf Andrees Latif hat zeitweilig seine Arbeit Arbeit sein lassen, so sehr haben ihn die Szenen aus Minami mitgenommen. "Ich habe ähnliche Katastrophen erlebt. 2004 habe ich über den Tsunami in Thailand berichtet. Aber so etwas habe ich mein Lebtag nicht gesehen." Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Fotoreporter hörte vorübergehend mit dem Fotografieren auf. "Ich stand ungläubig herum", sagt Latif.
"Manche Leute waren einfach nicht schnell genug"
Miki Otomo hat den Tsunami nahe Sendai im Nordosten Japans überlebt. Die Bilder der schwarzen Flut, die Menschen, Häuser und Autos einfach mitriss, sind für immer in ihr Gedächtnis gebrannt. "Meine ältere Schwester war in einem Bus, als die Welle hinter ihnen auftauchte. Der Busfahrer sagte allen, sie sollen den Bus verlassen und laufen", erzählt sie. "Meine Schwester rannte vor dem Wasser davon, aber manche Leute waren einfach nicht schnell genug." Sie wurden verschlungen von den wirbelnden Wassermassen wie tausende andere, als nach dem schlimmsten Erdbeben in der Geschichte Japans ein meterhoher Tsunami über das Land rauschte.
Die dreifache Mutter selbst flüchtete vor der tödlichen Wasserwand in ihrem Auto. "Die Tsunami-Welle kam und ich packte Großvater und unseren Hund und fuhr los. Die Welle war genau hinter mir, aber ich musste ständig Slalom fahren und Hindernissen ausweichen, bis ich in Sicherheit war", erzählt Otomo. Ihre Familie überlebte, aber ihr Haus nahe des schwer verwüsteten Sendai wurde von der Naturkatastrophe zerstört. Deshalb campiert Otomo jetzt in einer Notunterkunft mit etwa tausend anderen Menschen.
Lebensmittel und Wasser werden knapp
Im Katastrophengebiet irren weinende Überlebende auf der Suche nach Verwandten und Freunden durch die Trümmerlandschaft. "Ich suche meine Eltern und meinen älteren Brüder", sagt Yuko Abe in der weitgehend zerstörten Kleinstadt Rikuzentakata. Möglicherweise hätten sie die Naturkatastrophe nicht erlebt. Weil die Telefone nicht funktionieren, kann die 54-Jährige auch niemandem sagen, dass sie noch lebt.
Viele Obdachlose verbringen die Nacht bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in Notunterkünften. Zwei Millionen Haushalte sind ohne Strom, 1,4 Millionen Menschen haben kein fließendes Wasser. Lebensmittel, Wasser und Decken sind auf dem Weg zu den Überlebenden. Vor allem die Kleinen leiden besonders unter der Ausnahmesituation. Das Kinderhilfswerk World Vision hat nun eine Hilfslieferung für 4500 Menschen in die Stadt Tome geschickt. Der Ort liegt rund 500 Kilometer nördlich von Tokio, ebenfalls in der Präfektur Miyagi. "Wir haben erfahren, dass es dort beispielsweise Bedarf an Decken, Babynahrung und Windeln gibt und wollen diese Dinge in Notunterkünfte bringen“, sagt der zuständige Nothilfeleiter Kenjiro Ban. Er hat in vielen Katastrophensituationen gearbeitet aber die Zerstörung und der Hilfsbedarf in Japan stelle vieles in den Schatten, was er bisher gesehen habe.
Silvia Holten von World Vision Deutschland steht via Skype in Verbindung mit ihren Kollegen in Japan. Die erzählen von unvorstellbaren Szenen: Menschen, die ihr Haus verloren haben, schlafen unter einer dünnen Decke auf dem nackten Boden - und das bei Minusgraden in der Nacht. Zudem seien viele Kinder traumatisiert und bräuchten dringend Unterstützung. "Die Behörden vor Ort versuchen zwar alles in ihrer Macht stehende zu tun, doch diese Katastrophe überfordert sie", sagte Holten stern.de. Immerhin können die Helfer ihre Fahrzeuge betanken - im Gegensatz zur Normalbevölkerung für die Autobahnen und Tankstellen gesperrt bleiben.
"Lage erfordert massive Mobilisierung von Mitteln"
Zudem erschweren Straßenschäden die Fahrt der Hilfskonvois - deswegen erwägt die Regierung die Einrichtung einer Luft- und Seebrücke. Für den Rot-Kreuz-Mann Fuller hat die Versorgung der Überlebenden höchste Priorität. "Das erfordert eine massive, massive Mobilisierung von Mitteln, weil sich das Katastrophengebiet Hunderte Kilometer hinzieht."
In der vom Erdbeben weitgehend verschont gebliebenen Hauptstadt Tokio gibt es derweil Hamsterkäufe. Reis, Brot und Nudeln sind Mangelware. "Zur Öffnungszeit standen 30 bis 40 Leute vor der Tür", sagt Supermarktleiter Toshiro Imai. Binnen einer Stunde seien so viel Lebensmittel verkauft worden wie sonst den ganzen Tag. "Mittags kam eine zweite Lieferung, und die war auch nach einer Stunde weg."
Helfer in den zerstörten Städten sind erschüttert. "Es ist wie eine Szene aus der Hölle, ein absoluter Alptraum", sagte Patrick Fuller. Gleichwohl nimmt die internationale Hilfe inzwischen Fahrt auf: Mehr als 70 Länder erklärten, sie würden Japan beistehen und boten Unterstützung an. Aus mindestens zwölf Ländern sind bereits Hilfsteams in Japan eingetroffen. Aus Deutschland etwa sind Spezialisten des Technischen Hilfswerkes im Einsatz, allerdings fällt es den Helfern schwer, Kontakt zu halten. Ein THW-Sprecher sagte stern.de, dass er schon seit mehreren Stunden nichts mehr von der Kollegin gehört habe, weil die Telefonverbindungen teilweise gekappt seien.