Ölpest im Golf von Mexiko BP greift nach dem letzten Strohhalm

Alarm im Golf von Mexiko: Experten befürchten, dass weitaus mehr Öl pro Tag ins Meer fließt, als bislang angenommen. Alle Hoffnungen von BP ruhen nun auf einem dünnen Rohr.

Gebetsmühlenartig wird die Zahl seit Tagen wiederholt: 700 bis 800 Tonnen Rohöl strömen täglich in den Golf von Mexiko, seit die Ölplattform "Deepwater Horizon" am 20. April explodierte und zwei Tage später versank. Doch die Katastrophe könnte noch viel schlimmer sein, als bisher angenommen. Zwei Berichten von diesem Freitag zufolge könnte die Menge an Öl, die täglich austritt, deutlich größer sein.

Steve Wereley, ein Professor an der Purdue University, glaubt, dass in Wahrheit etwa 9500 Tonnen täglich ins Wasser sprudeln - über zehnmal so viel wie offiziell geschätzt. Zu dieser Annahme kommt er nach dem Studium der kürzlich veröffentlichten Videoaufzeichnungen von BP. Sie zeigten, wie Öl aus einem lecken Bohrrohr strömt. Für den amerikanischen Radiosender NPR (National Public Radio) hat der Wissenschaftler dieses Video mit einer Computermethode analysiert. Dabei werden Partikel gezählt und beobachtet, wie schnell sich diese bewegen.

Dass die Größe der Ölverschmutzung unterschätzt wird, vermutet auch Ian R. MacDonald von der Florida State University, der seine Kalkulationen auf Satellitenbilder stützt. Diese würden nahelegen, dass der Verlust an Öl vier oder fünfmal größer sein könnte als die offiziellen Schätzungen, sagte der Wissenschaftler der "New York Times". BP, die US-Küstenwache und Washingtoner Behörden, die zusammen einen Krisenstab bilden, gingen bislang davon aus, dass jeden Tag etwa 700 Tonnen Rohöl, hauptsächlich aus dem Steigrohr, ins Meer gelangen. Diese Zahl sei von Wissenschaftlern eilig aufgestellt worden, kritisiert die "New York Times", wahrscheinlich mit einer Methode, die für größere Ölkatastrophen nicht geeignet sei. Ob die Zahl stimmt, weiß daher auch niemand genau. Das räumte auch BP-Manager Doug Suttles am Freitag ein. Er nannte die 700 aber eine "gute Schätzung".

Serie an technischen und menschlichen Fehlern

Unterdessen rückt in Amerika die Suche nach den Schuldigen für die Umweltkatastrophe immer mehr in den Vordergrund. Die Kritik am britischen Ölkonzern BP hat mit den Anhörungen mehrerer ranghoher Firmenvertreter vor dem US-Senat zugenommen. US-Präsident Barack Obama sprach gar von "lächerlichen Schauspiel", das die Spitzenmanager bei der Anhörung aufgeführt hätten. Die Aussagen der BP-Manager verstärkten den Verdacht, dass möglicherweise zahlreiche Warnsignale im Vorfeld des Untergangs der Ölplattform "Deepwater Horizon" übersehen worden waren. Die von BP betriebene Bohrinsel war am 20. April im Golf von Mexiko explodiert und zwei Tage später gesunken. Seitdem strömen täglich schätzungsweise 800.000 Liter Öl aus und bedrohen die Küstengebiete mehrerer südlicher US-Bundesstaaten.

Zum Untergang der Bohrinsel trug eine ganze Serie technischer und menschlicher Fehler bei, wie eine vom US-Kongress beauftragte Untersuchung ergab. So ist ein wichtiges Sicherungsventil gar nicht leistungsfähig genug gewesen, um die Ölquelle komplett abzudichten. Der sogenannte Blow-out-Preventer sollte laut BP garantieren, dass bei Problemen mit der Förderanlage kein Öl ins Meer gelangt. Er habe leere Batterien enthalten und die nutzlose Testversion eines wichtigen Bauelements. Darüber hinaus gab es Lecks in der Hydraulik, wie die "Washington Post" am Donnerstag schrieb. BP schiebt die Schuld für das Versagen auf Transocean, den Schweizer Betreiber der Förderanlage.

Politiker kritisierten dagegen, der britische Ölkonzern habe seine Arbeiten auf der "Deepwater Horizon" überhastet beendet, ohne die Quelle richtig abzudichten. Nach Angaben des demokratischen Kongress-Abgeordneten Henry Waxman ist ein wichtiger Bohrloch-Drucktest noch am Morgen der Explosion am 20. April "unbefriedigend" ausgefallen. In verschiedenen Rohrabschnitten sei ungleichmäßiger Druck gemessen worden - möglicherweise ein Hinweis auf Gaszufluss ins Bohrloch, wie es in Medienberichten hieß. Ein plötzlicher Gasaustritt gilt als Auslöser der Explosion.

Wie die "New York Times" am Freitag berichtet, hat eine US-Behörde zudem Genehmigungen für Ölbohrungen im Meer erteilt, ohne sich die vorgeschriebenen Umweltzulassungen einzuholen. Darunter sei auch eine Genehmigung für die im Golf von Mexiko verunglückte Förderplattform Deepwater Horizon. Wie das Blatt unter Berufung auf Unterlagen des Bundes und Angaben aus Mitarbeiterkreisen berichtete, holte sich die US-Behörde für Rohstoffverwaltung, der sogenannte "Minerals Management Service" (MMS) in Hunderten Fällen nicht die gesetzlich vorgeschriebene Stellungnahmen der Wetter- und Ozeanografiebehörde ein. Diese ist zuständig dafür, bedrohte Arten und Meerestiere zu schützen. Zudem sei Druck auf die MMS-Wissenschaftler ausgeübt worden, die Ergebnisse ihrer Befunde zu ändern, wenn diese vor einem Unglück oder einer Bedrohung für die Tierwelt gewarnt hätten.

Amerikaner weiterhin für Offshore-Bohrungen

Seit dem Untergang der Bohrinsel sind geschätzte 15 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko geströmt. Die Öl-Katastrophe vor der US-Küste hat den Energieriesen BP mittlerweile 450 Millionen Dollar (353 Millionen Euro) gekostet.

Angesichts der Katastrophe will die US-Regierung für künftige Ölunfälle mehr finanzielle Vorsorge treffen. Sie brachte am Mittwoch ein Gesetzesbündel im Kongress ein, das unter anderem vorsieht, einen Treuhänder-Fonds von einer Milliarde Dollar auf 1,5 Milliarden Dollar (etwa 1,2 Milliarden Euro) aufzustocken. Die Ölindustrie soll ihn durch Steuerauflagen speisen. Zudem ist eine Gesetzesinitiative geplant, die den Einzelstaaten ein Vetorecht gegen Bohrungen vor der Küste geben würde.

Trotz der Umweltkatastrophe unterstützen die US-Bürger aber weiter die Offshore-Förderung von Öl und Gas. Die Bohrungen in tiefen Gewässern stoßen laut einer GfK-Erhebung im Auftrag der Nachrichtenagentur AP bei jedem Zweiten auf Zustimmung. 38 Prozent der Befragten sind gegen solche Projekte. Mit der Reaktion von US-Präsident Barack Obama auf die Ölpest zeigten sich 42 Prozent zufrieden. Auf verhaltene Kritik stößt nach der Ölpest das Verhalten des Ölkonzerns BP: Knapp die Hälfte der Befragten (49 Prozent) äußerte sich negativ, aber immer noch rund jeder Dritte (32 Prozent) wertet das Verhalten des Unternehmens positiv.

Neue Methode im Kampf gegen das Öl

Unterdessen wird im Golf von Mexiko ein neuer Versuch gestartet, die Ölpest in den Griff zu bekommen. Das aus dem Hauptleck sprudelnde Öl solle durch ein dünnes Rohr abgesaugt und in einen Tanker an der Wasseroberfläche geleitet werden, sagte ein BP-Sprecher. Die schwierige Operation solle mit Hilfe von ferngesteuerten Robotern ausgeführt werden, die das nur 15 Zentimeter dicke Rohr in 1500 Meter Tiefe mitsamt Dichtungspfropfen in die sechs Zentimeter dickere, zerstörte Steigleitung einsetzen sollten. Der Versuch, das Loch mit einer Stahlglocke abzudecken, wurde einstweilen unterbrochen. Sollte es misslingen, das Absaugrohr zu installieren, wollte BP den Angaben zufolge den Versuch mit der Stahlglocke wiederaufnehmen. Ein erster Versuch mit einer größeren Abdeckung war vergangene Woche gescheitert, weil sich darin Eiskristalle bildeten und das Absaugen des Öls verhinderten. Die neue Glocke ist kleiner, eine Wärmevorrichtung soll Eis zum Schmelzen bringen.

Neben der kleineren Kuppel wird außerdem erwogen, die Ölquelle mit Gummi- und Holzteilen zu verstopfen. Weiterhin werde darüber nachgedacht, eine Art zweites Abstellventil oberhalb des kaputten zu installieren. Außerdem komme infrage, das defekte Steigrohr anzusägen, um das Öl schon vor dem Austritt aus dem Leck abzuführen.

Wissenschaftler sollen Alternativen finden

Im verzweifelten Kampf gegen die Umweltkatastrophe scheinen BP und der US-Regierung allerdings die Ideen auszugehen. Physiker, Ingenieure, Geologen und andere Experten wurden daher in die BP-Zentrale im texanischen Houston eingeladen. Sie beraten darüber, wie das Problem zu lösen sei, sagte US-Energieminister Steven Chu am Mittwoch. Die Wissenschaftler sollen die bislang vom britischen Ölkonzern BP unternommenen Versuche neu bewerten und mögliche Alternativen vorschlagen. Zudem sollen sie soviele Informationen wie möglich über die Katastrophe sammeln, um ein solches Desaster in Zukunft zu vermeiden. "Die intellektuelle Lokomotive dieses Landes" sei im Einsatz, sagte Chu, selbst Nobelpreisträger in Physik, und fügte ohne weitere Details hinzu: "Wir machen Fortschritte." Welche, sagte er allerdings nicht.

Nach Behördenangaben könnte sich der Ölteppich bei den gegenwärtigen Windbedingungen weiter dem Bundesstaat Louisiana und dem Mississippi-Delta nähern. Am Mittwoch befand er sich nur noch etwa 15 Kilometer vom Festland entfernt. Nach letzten Schätzungen der staatlichen Ozean- und Klimabehörde dürfte der Teppich am Samstag das Festland erreichen.

An der Küste des US-Bundesstaates Louisiana wurden derweil neue Ölklumpen angeschwemmt. An einem Strand des Ortes South Pass etwa 50 Kilometer südlich von New Orleans an der Mündung des Mississippi seien "klebrige und dunkle" Ölklumpen entdeckt worden, teilte das Ministerium für Fischerei und Umwelt am Mittwoch mit. Die Behörden sperrten den Zugang zu den betroffenen Küstenstreifen.

AP · DPA · Reuters
lea/AFP/DPA/AP/Reuters

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