Wahrscheinlich wusste Annalena Baerbock schon, dass sie um das Thema nicht herum kommen wird an diesem Donnerstag im kolumbianischen Cali. Und doch versucht die Außenministerin es am Morgen noch. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der kolumbianischen Vizepräsidentin Francia Marques fragt eine deutsche Journalistin sie nach den Verhandlungen zur Europäischen Asylreform.
Aber Baerbock ist weit weg, das scheint ihr auch ganz recht zu sein. Sie will über die Zusammenarbeit mit Kolumbien reden, nicht über das, was Zuhause los ist. Also antwortet sie knapp und kühl: Innenministerin Nancy Faeser verhandle den Kompromiss auf EU-Ebene. "Und jetzt fern und mit Zeitverschiebung kann ich dazu nicht mehr sagen.“ Nachfragen? Nicht zugelassen.
Wenige Stunden später wird öffentlich, was die Einigung der europäischen Innenminister beinhaltet: Erstmals sind Asylverfahren an Europas Außengrenzen möglich. Aus zentralen Lagern sollen Menschen nach einer beschleunigten Asylprüfung direkt abgeschoben werden können. Deutschland hatte sich auch wegen Druck der Grünen dafür eingesetzt, dass diese Verfahren nicht für Familien mit Minderjährigen gelten. Diese Ausnahme steht in der Einigung nun nicht drin. Europa setzt auf Abschottung und Abschreckung, es ist ein Wendepunkt in der Asylpolitik mit Sprengkraft für die Grünen - und die Ampel-Koalition.
Baerbock ändert das Programm, um die Partei zu beruhigen
Die Einigung durchkreuzt prompt Baerbocks Programm. Kaum ist die Einigung öffentlich, reagieren erste Grüne entsetzt, in den sozialen Medien, parteiintern. Baerbock muss reagieren - und spontan das Programm ihrer Reise ändern.
Die Außenministerin nimmt nicht an einer Podiumsdiskussion zur feministischen Friedenspolitik und zum Friedensprozess in Kolumbien teil. Stattdessen, so heißt es am Rande, werbe sie mit Verve in einer Reihe von Videoschalten ihrer Partei und der Bundestagsfraktion für den Kompromiss. Plötzlich ist sie nicht mehr weit weg, plötzlich ist sie wieder mittendrin. "Wer meint, dieser Kompromiss ist nicht akzeptabel, der nimmt für die Zukunft in Kauf, dass niemand mehr verteilt wird“, schreibt sie in einer Erklärung.
Aber viele Grüne haben jetzt Fragen. Wie kam der Kompromiss zustande? Wusste Baerbock womöglich von vornherein, dass Nancy Faeser sich mit der Forderung nach Ausnahmen nicht wird durchsetzen können?
Bis zuletzt schien die Grünen-Spitze davon auszugehen, die Pläne der Innenminister wenigstens etwas abmildern zu können. Daraus ist nichts geworden. Jetzt staut sich der Frust in der Partei auf. Die neue Asylpolitik ist eine weitere Zumutung für viele in der Partei. Deutschland hätte der Reform "nicht zustimmen sollen", kritisiert Fraktionschefin Katharina Dröge, Ricarda Lang, die Parteivorsitzende, sieht es ähnlich. Steuert die Ampel auf ihren nächsten großen Konflikt zu?
Jedenfalls brechen in der Partei plötzlich wieder die alten Lager auf. Realos wie Parteichef Omid Nouripour oder die Fraktionsvorsitzende Britta Hasselmann verteidigen die Einigung. Parteilinke und die Grüne-Jugend-Vorsitzenden Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus sehen in der Einigung einen schweren Fehler. Ein Bundestagsabgeordneter schreibt: "Heute ist vielleicht der bitterste Tag meines politischen Lebens.“
Populismus nicht in Gesetzesform gießen
Schon seit Wochen brodelt es an der Grünen-Basis. Viele in der Partei lehnen die Verfahren an der Außengrenze grundsätzlich ab. 730 Grünen-Mitglieder richteten vor einigen Tagen einen offenen Brief an ihre Minister, Partei- und Fraktionsvorsitzenden. Darin heißt es: "Wir erwarten, dass ihr gemeinsam mit viel Rückenwind aus der Partei, Zivilgesellschaft und der Wissenschaft dazu beitragt, dass Populismus nicht in Gesetzesform gegossen wird und wir die Hegemonie in der Debatte zurückgewinnen.“
Es ist der nächste Kompromiss, der weit weg von ursprünglichen Grünen-Positionen ist. Die Partei stimmte in den vergangenen Monaten zu, dass Waffen in die Ukraine geliefert werden, Sanktionen beim Arbeitslosengeld bestehen bleiben, Atomkraftwerke länger laufen dürfen. Auf Parteitagen wurde über schwere Entscheidungen gesprochen, auch darüber, wie viel schlechter es wäre, wenn die Grünen gar nicht in der Regierung wären. Nun könnten sich langsam manche fragen: Wäre das wirklich schlechter?
Am Abend steht Baerbock noch mal mit Francia Marques auf der Bühne, sie hält die Laudatio auf sie bei einer Preisverleihung. Es könnte ein schöner Abend sein. Vor ihrer Rede wird auf der Bühne Salsa getanzt, die Menschen im Publikum trinken frischen Saft und sind elegant gekleidet. Ein Abend, an dem man den Feminismus feiern könnte, die starken Frauen auf der Welt. Aber Baerbock ist heiser, sie wirkt erschöpft und fährt mit ihrer Delegation Richtung Flugzeug, bevor der Wein verteilt wird. In Deutschland ist zwei Uhr nachts, vielleicht muss sie also mal kurz nicht telefonieren.
Aber, das ist klar, auch ihre nächste Station Panama ist nicht weit genug weg, um der Debatte zu Hause aus dem Weg zu gehen.