Eskalierte Gewalt "Kasachstan kann Rache für Putin werden": So kommentiert die Presse die Proteste

Das Bild der russischen Staatsagentur Tass zeigt Soldaten beim Einsatz in Kasachstan Hauptstadt Almaty
Das Bild der russischen Staatsagentur Tass zeigt Soldaten beim Einsatz in Kasachstans Millionenmetropole Almaty
© Valery Sharifulin / DPA
In Kasachstan ist die Lage eskaliert. Nach tagelangen Unruhen gibt es Dutzende Tote und Verletzte auf beiden Seiten – ein Ende ist nicht in Sicht. Die Presseschau im Überblick.

Die ganze Welt blickt derzeit nach Kasachstan. Seit Dienstag gehen dort die Menschen wegen extrem gestiegener Benzin- und Gaspreise auf die Straße. Mittlerweile geht es um mehr als das. Die Menschen protestieren gegen das autokratische System. Präsident Kassym-Jomart Tokajew entließ daraufhin die Regierung, verhängte einen landesweiten Ausnahmezustand und holte sich militärische Unterstützung von einem Russland geführten Bündnis. Er bezeichnete die Demonstrierenden als "terroristische Banditen" und lässt die Soldaten hart durchgreifen. 

Das Ergebnis sind nach offiziellen Angaben mehr als 1000 Verletzte, Dutzende Tote unter den Protestierenden und mindestens 18 tote Sicherheitskräfte. Und ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht.

Die kritische Lage in Kasachstan und insbesondere die Rolle Russlands beschäftigt auch die Medien in Europa. Die Unruhen könne der russische Staatschef Wladimir Putin gerade so gut wie Zahnschmerzen gebrauchen, sagen die einen. Andere hingegen sehen in dem Einsatz eine Chance für den Kreml, das größte Land Zentralasiens für absehbare Zeit an sich zu binden. Die Presseschau im Überblick.

"Die Energiepreise brachten das Fass nur zum Überlaufen"

"Leipziger Volkszeitung": "Zwar übergab Nasarbajew 2019 nach fast 30 Jahren Präsidentschaft die Macht an seinen Gefolgsmann Kassym-Jomart Tokajew, behielt aber im Hintergrund alle Fäden weiter in der Hand. Diese Ära scheint jetzt zu Ende zu gehen. Aber was danach kommt, ist völlig unklar. In Kasachstan ist bislang keine intellektuelle Führungsmannschaft erkennbar, die Weg und Ziel der Proteste bestimmen und lenken sowie eine breite Bevölkerungsschicht hinter sich vereinen könnte."

"Hannoversche Allgemeine Zeitung": "Das Regime in Kasachstan ist offenbar von den Massenprotesten völlig überrumpelt worden. Anders ist der schnelle Hilferuf nach dem von Russland angeführten Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) nicht zu deuten. Denn eigentlich ist das Verhältnis zu Moskau von hoher Sensibilität geprägt, gibt es doch auch 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion immer noch die Sorge, dass deren Rechtsnachfolger mit Gebiets- oder anderen Ansprüchen aus der Deckung kommen könnte."

"Volksstimme": "Die Gründe für die schweren Unruhen in der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan liegen nicht nur in den hohen Energiepreisen – die waren nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nur Wenige haben bisher von der wirtschaftlichen Entwicklung profitiert, vor allem die Landbevölkerung ist verarmt und unzufrieden. Als sich nun viele der bestehenden Probleme des Landes durch die Corona-Pandemie verschärft haben, schlug der Frust vieler Menschen gegen die autoritäre Staatsführung in Gewalt um. Die Proteste werden sich auch nach dem Rücktritt der Regierung und der Senkung der Energiepreise nicht so schnell legen. Dass Russlands Machthaber Putin Truppen nach Kasachstan schickt, liegt vor allem in seinem eigenen Interesse. Er möchte sicher nicht noch eine Demokratie nach westlichem Vorbild direkt vor seiner Haustür und will die Proteste so schnell wie möglich im Keim ersticken."

Putins Eingreifen "ändert die internationale Lage"

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "So wie in Belarus Alexander Lukaschenko vor der Wahl 2020 nicht wahrgenommen hatte, wie sehr die Gesellschaft seines Landes sich verändert hatte, so war sich das autoritäre Regime in Kasachstan offenbar nicht darüber im klaren, welcher aufgestaute Unmut nur noch auf einen Anlass dafür wartete, sich Bahn zu brechen. Dabei war es nicht völlig falsch, wenn die kasachische Führung ihr Land als Erfolgsgeschichte dargestellt hat: Im regionalen Vergleich stand es gut da. Dass das nun in Gefahr ist, ist freilich vor allem die Schuld der Herrschenden. (...) Die Rettung des Regimes durch ein Eingreifen Russlands verlängert und vergrößert die Probleme Kasachstans. Und zugleich verändert der Einsatz russischer Truppen die internationale Lage."

"Allgemeine Zeitung": "Bislang hat man in Kasachstan schon wegen der großen russischen Minderheit im Land lieber eine gewisse Distanz zum Nachbarn gepflegt. Doch damit dürfte es vorbei sein. Nach aller Erfahrung werden die russischen Soldaten so schnell nicht wieder verschwinden. Und der Kreml wird auch den Machthaber in Nur-Sultan, Kassym-Jomart Tokajew, an sich zu binden wissen. Auf dass dieser gar keine andere Wahl mehr hat als mit Putin zu kooperieren. Russland schafft sich so etwas wie einen Schutzgürtel in Osteuropa. Das ist legitim. Fraglich bleibt die Wahl der Mittel. Bedenklich ist es schon, wie laut man betont, der Aufruhr sei vom Westen angezettelt worden. Als wenn 30 Jahre geldgierige Alleinherrschaft nicht Grund genug wären, in Kasachstan nach mehr Teilhabe zu rufen."

"Dziennik" (Polen): "Die Proteste haben das Bild von Kasachstan als aufgeklärte Autokratie und Oase der Stabilität in Zentralasien widerlegt. Nursultan Nasarbajew hat die Republik seit 1984 regiert, zunächst als Regierungschef, später als Erster Sekretär der kommunistischen Partei, schließlich als Präsident. Als Führer eines jungen Staates gelang es ihm, ethnische und religiöse Zusammenstöße zu vermeiden. Und das war nicht einfach, denn im Norden, entlang der Grenze mit Russland, wohnen mehrere Millionen Russen. Im Vergleich zu den Nachbarrepubliken war Nasarbajews System milde, auch wenn es sich auf eine harte Hand, gefälschte Wahlen und den Kampf gegen die Opposition stützte. Kasachstan war nie so eine groteske Diktatur wie Turkmenistan, die Oppositionsführer wurden dort nicht brutal ermordet wie in Usbekistan, es gab auch keine Massenrepressionen wie in Tadschikistan. Nasarbajew beschützte das Land auch vor der Anarchie, in welcher das relativ demokratische Kirgistan immer wieder versinkt. Der Preis dafür war ein enges Bündnis mit Russland."

"Neatkariga Rita Avize" (Lettland): "Das seit 20 Jahren bestehende Machtgleichgewicht in Zentralasien hat sich durch den US-Rückzug aus Afghanistan im vergangenen Jahr verändert. Da die Amerikaner nicht mehr zum Krieg machen da sind, ist es möglich, den Erfolg der Taliban in andere zentralasiatische Länder zu exportieren. Angesichts der Gesamtlänge der Landgrenze zwischen Russland und Kasachstan von 7600 Kilometern ist eine Destabilisierung Kasachstans unter den gegebenen Umständen für Russlands Widersacher von Vorteil. Sollte sich Kasachstan in einen Hort der Instabilität und des islamischen Extremismus in Zentralasien verwandeln, bedeutet dies eine Bedrohung für die gesamte Südgrenze Russlands. Russland würde enorme Ressourcen für den Schutz seiner Südgrenze aufwenden müssen und es wird dann an Mitteln fehlen, um die Spannungen gegenüber Europa aufrechtzuerhalten. Deshalb hat sich Moskau umgehend beschlossen, "Friedenstruppen" zu entsenden, um eine weitere Destabilisierung und einen Machtwechsel in Kasachstan zu verhindern."

"De Tijd" (Belgien): "Die Unruhen in Kasachstan kann der russische Staatschef Wladimir Putin so gut gebrauchen wie Zahnschmerzen. Er hat schon alle Hände voll zu tun mit der Ukraine, wo er Auge in Auge konfrontiert ist mit den USA und Europa. Ein neuer Brandherd an der russischen Grenze bedeutet eine militärische Belastung und den Einsatz von Truppen, die er anderswo brauchen kann. (...)"

Sorgt Russland in Kasachstan für Ordnung?

"Aftenposten" (Norwegen): "Hintergrund der Unruhen sind hohe Gaspreise. Viele in Kasachstan haben ihr Auto umgebaut, um mit Gas statt mit Benzin zu fahren. Bis vor kurzem hatte das Land einen Preisdeckel für Gas. Rund um Neujahr wurde der Deckel entfernt, der Preis schoss in die Höhe. Aber die Proteste handeln auch von Unzufriedenheit mit den Behörden. Als Kasachstan 2019 erstmals seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion eine Präsidentenwahl abhielt, war Nursultan Nasarbajew zum ersten Mal nicht unter den Kandidaten. Aber die Wahl war alles andere als frei. Nasarbajew hatte von langer Hand seinen Nachfolger Kassym-Jomart Tokajew auserkoren. Präsident Tokajew hat versprochen, dass der Preisdeckel für das Gas wiederkommt, aber das hat die Proteste nicht beendet. Es half auch nicht, dass er die Regierung abgesetzt hat. Vielleicht würde eine freie Wahl eine bessere Lösung darstellen."

"de Volkskrant" (Niederlande): "Vieles von dem, was in Kasachstan geschieht – einem strategisch gelegenen Land, das an China und Russland grenzt und so groß ist wie Westeuropa, nur mit mehr Rohstoffen – ist mysteriös. Das gilt auch für die Bitte des Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew um militärische Hilfe. Hat er das wirklich ganz allein beschlossen oder bekam er einen Anruf aus Moskau? Wir kennen das schon aus Belarus: In Bedrängnis geratene Autokraten schlagen wie verrückt um sich. Ein Blutbad in Almaty ist die vorläufige Folge. (...)"

"La Repubblica" (Italien): "Kasachstan kann die Rache für Putin werden. Während der russische Präsident die Ukraine mit der Androhung einer Invasion von 100.000 Mann, die nahe der Grenze versammelt wurden, gängelt, und angesichts der Treffen mit den Vereinigten Staaten und der Nato in der kommenden Woche eine Reihe von "roten Linien" absteckt, droht der Gasaufstand im reichsten und modernsten postsowjetischen Staat, den Traum des Kremlführers von einer getarnten Wiederbelebung der UdSSR in Trümmer zu schlagen. (...)"

"Lidove noviny" (Tschechien): "Die Ereignisse in Kasachstan verraten auch etwas über die Ambitionen der russischen Politik. Mancher wird sich noch erinnern, wie russische Einheiten im vorigen Jahr den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach beendet haben. Auch diesmal sorgt Russland für Ordnung. Das kann man nicht pauschal als Verbrechen verurteilen. Doch das Problem liegt darin, dass Russland nicht weiß, wo es anfangen darf und wo es aufhören muss. Sein Einschreiten in Bergkarabach und in Kasachstan stören den Westen nicht. Doch würde das auch im Falle Georgiens, der Ukraine oder gar des Baltikums gelten? Darüber müssen die USA und die Nato mit Russland verhandeln. Zwar ist der Begriff der Einflusssphären unbeliebt, aber manchmal ist es der bessere Weg, eine Grenze festzulegen, die noch als einigermaßen akzeptabel angesehen wird."

"NZZ" (Schweiz): "Dass Russlands Präsident Wladimir Putin in der gegenwärtigen Situation bereit ist, Truppen nach Kasachstan zu schicken, mag auf den ersten Blick erstaunen. In den letzten Wochen ließ er große Truppenverbände an die Grenze zur Ukraine verlegen – da scheint eine zweite Front mehrere tausend Kilometer östlich verwegen. Doch Putin ist bekannt dafür, dass er Gelegenheiten ergreift, wenn sie sich bieten. Offenbar sieht er die Unruhen in Kasachstan als Chance, um das größte Land Zentralasiens für absehbare Zeit fest an Russland zu binden. Die Vermutung, dass der Kreml zu diesem Zweck gar den Volkszorn angestachelt hat oder steuert, gehört wohl in die Kategorie der Verschwörungstheorien. Vielmehr nützt der gewiefte Opportunist Putin die Schwäche der kasachischen Autokraten geschickt für sich aus."

DPA · AFP
kng / les