"Nachrichtenaufklärung" Andere Länder, andere Kriege

Zu weit weg, zu wenige Tote, zu geringe Relevanz - die Begründungen dafür, dass eine große Zahl von Konflikten in den Medien kaum eine Rolle spielt, sind so banal wie zynisch. Ein gutes Beispiel: der Westsahara-Konflikt zwischen Marokko und dem Volk der Sahaouris.

Drei Wochen und viele Tote ist es her, seit im Irak der erste Schuss fiel. Im Wettlauf um aktuelle Informationen und exklusive Berichterstattung jagen sich seitdem "embedded" Korrespondenten, Expertenmeinungen und Sondersendungen gegenseitig. Nie war ein Krieg so überbordend an Nachrichten, Bildern, Meinungen und Hintergrundberichten. Nie wurde so viel protestiert und zu Spenden aufgerufen. Das Übermaß an Informationen und Hilfsaktionen erweckt den Anschein, der Krieg im Irak sei der einzig relevante Konflikt weltweit. Doch die Realität sieht wie so oft ganz anders aus.

Zu weit weg, zu wenige Tote

Das internationale Friedensforschungsinstitut SIPRI zählt derzeit 15 Kriege mit zahlreichen Opfern auf der Welt. Elf davon dauern bereits länger als acht Jahre, die meisten innerhalb afrikanischer Länder. Eine große Zahl dieser Konflikte spielt in den Medien jedoch kaum eine Rolle. Von manchen erfährt man gar nichts. Die Begründungen dafür sind so banal wie zynisch: Zu weit weg, zu wenige Tote, zu geringe Relevanz.

"Zahlreiche Tote nach Kämpfen im Nigerdelta" lautete eine Schlagzeile der dpa Ende März. Bei Kämpfen zwischen zwei rivalisierenden Stämmen und der Armee waren im Süden Nigerias Dutzende Zivilisten und mehrere Soldaten getötet worden. Hunderte Menschen flohen aus ihren Dörfern. Die Stämme forderten eine gerechte Verteilung der Öleinnahmen und riefen zum "Krieg gegen Regierung und Ölkonzerne" auf. Shell, Chevron Texaco und TotalFinalElf stellten ihre Förderarbeit im ölreichen Nigerdelta vorerst ein. Trotz zahlreicher Toter und großer Bedeutung für die Weltwirtschaft fand die Meldung keinerlei Beachtung in den Medien.

Die "Initiative Nachrichtenaufklärung" der Universität Siegen nimmt sich seit 1987 der Erforschung dieser vernachlässigten Nachrichten an. Nach dem Vorbild des amerikanischen "Project Censored" entscheiden Professoren und Journalisten anhand von fünf Kriterien, welche Themen in Frage kommen. Dabei geht es ihnen um Nachrichten, Berichte und Themen, die der Bevölkerung in Deutschland und Europa bekannt sein sollten, zu denen sie aber nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang hat. Die Themen müssen für einen Großteil der Bevölkerung relevant sein, eindeutig konzipiert und auf zuverlässigen, überprüfbaren Quellen basieren. Trotz ihrer Bedeutung dürfen die Medien sie noch nicht aufgegriffen, recherchiert und veröffentlicht haben. Jedes Jahr gelangen rund zwanzig Themen in die engere Auswahl.

Westsahara-Konflikt schwelt seit mehr als 25 Jahren

In der Auswertung des vergangenen Jahres fiel den Experten ein Thema besonders ins Auge: der Westsahara-Konflikt zwischen Marokko und dem Volk der Sahaouris. Bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert schwelt die Auseinandersetzung um die Westsahara, die als letzter Kolonialkonflikt gilt. Als sich die ehemalige Kolonialmacht Spanien 1975 aus dem Gebiet zurückzog, annektierten Marokko und Mauretanien den größten Teil der Westsahara und vertrieben die Bevölkerung unter anderem mit dem Einsatz von Napalm-Bomben. Tausende von Sahaouris starben. Das marokkanische Regime siedelte hunderttausende Marokkaner in dem Gebiet an, um die reichen Fischfanggründe und Phosphat-Vorkommen sowie die vermuteten Bodenschätze an Gas- und Erdöl zu sichern.

Zuvor hatte sich jedoch mit der "Frente Polisario" eine Befreiungsbewegung der Einwohner Westsaharas formiert. Nach verstärkten Kampfhandlungen mussten 300.000 Sahaouris aus ihrem Land flüchten. Zwei Drittel von ihnen ließen sich in Flüchtlingslagern in Algerien nieder und leben seitdem unter unwirtlichen Bedingungen und sind abhängig von äußerer Hilfe. Hier gründeten sie die Demokratische Autonome Republik der Sahaouris (DARS), die heute von über 50 UN-Mitgliedstaaten anerkannt wird. Ihren Sitz hat die "Regierung" nach wie vor im algerischen Exil. Schließlich erkannte Mauretanien 1984 die DARS an. Marokko jedoch kontrolliert bis heute 60 Prozent der Fläche.

Die jahrelangen Kämpfe wurden 1991 durch einen Waffenstillstand beendet. Der ein Jahr später geschlossene Friedensvertrag sieht ein Referendum unter UN-Überwachung vor. Doch alle Bemühungen, dieses Referendum seitdem durchzuführen, scheiterten am Widerstand Marokkos.

Im Januar 2003 lief das UN-Mandat aus, doch da es an politischen Lösungen mangelte, behielten die Vereinten Nationen ihre Beobachter vorerst im nordwestafrikanischen Wüstengebiet. Der Sicherheitsrat verlängerte das Mandat der Mission um zwei Monate bis Ende März. Seitdem ist nichts mehr aus der Krisenregion zu hören.

Kongos vergessener Krieg

Der Bürgerkrieg in Kongo hat gute Chancen, im nächsten Jahr in die Liste der Nachrichtenforscher aufgenommen zu werden. Seit vier Jahren dauert der Konflikt an. Schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen fielen ihm direkt und indirekt zum Opfer. In der vergangenen Woche kamen bei einem Massaker nach UN-Schätzungen zwischen 350 und 1000 Menschen ums Leben. Damit hat der Konflikt inzwischen mehr Todesopfer gefordert als jeder andere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

"Dies ist der grausamste Einzelvorfall seit Beginn des Bürgerkriegs", sagte Hamadou Toure, Sprecher der UN-Kontrollmission. Erst Ende März hatten die Konfliktgruppen einen Waffenstillstand für die nordöstliche Unruhe-Provinz vereinbart. Die Regierungen in Berlin und London reagierten kurz und schockiert. Doch von Spendenaktionen oder gar Protesten wird abgesehen. Auch die Medien halten sich bedeckt. Zu sehr ist die Welt mit dem Demonstrieren gegen George W. Bushs Alleingang beschäftigt. Friedensaktivisten ziehen eine Augenklappe über, die Fernsehanstalten drehen die Kameras weg und während sich der Zuschauer der nächsten Live-Schaltung aus dem zerrütteten Irak zuwendet, fällt es gar nicht mehr auf, dass einen Kontinent weiter tagtäglich hunderte Menschen durch Gewaltanwendung sterben.

Maike Dugaro