Der Abschuss eines türkischen Kampfflugzeugs durch die syrische Luftabwehr über der levantinischen Mittelmeerküste traf den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in einer persönlichen Ruhephase. Während der Generalstab mit Außenminister Ahmet Davutoglu in Dauersitzungen über die Lage beriet, ruhte sich Erdogan am Samstag von der strapaziösen Rückreise vomRio+20-Gipfel in Brasilien aus.
Aber vielleicht sollte seine merkwürdige Absenz am Tag danach auch nur signalisieren: Die Türkei hängt die Affäre nicht so hoch und will kein Öl in schwelendes Feuer gießen.
Denn das Verhältnis der Türkei zu Syrien ist längst nicht mehr ungetrübt. Seitdem der syrische Präsident im Frühjahr 2011 damit begann, die damals noch friedlichen Proteste gegen sein Regime niederzukartätschen, hat sich sein erklärter "Freund" Erdogan zunehmend von ihm entfremdet. Heute äußert Damaskus böse Vorwürfe: Ankara versorge die inzwischen bewaffneten syrischen Aufständischen mit Geld und Waffen.
Ankara pocht auf humanitäre Motive
Die Türkei pflegt das zu dementieren. Tatsächlich kommen Geld und Waffen für den Widerstand gegen Assad vor allem aus den arabischen Golfstaaten. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass diese Unterstützung auch über türkisches Gebiet fließt. Die "New York Times" berichtete kürzlich, dass CIA-Agenten im südanatolischen Grenzgebiet zu Syrien darüber wachen würden, dass die Waffen für den syrischen Aufstand nicht an islamistische Extremisten geraten.
Ankara pocht auf rein humanitäre Motive. Mit der Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge nehme es ohnehin Belastungen in Kauf. 17.000 sind es nach offiziellen Angabe, in Wirklichkeit möglicherweise doppelt so viel. Der Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs droht das gereizte Verhältnis zusätzlich gefährlich zu belasten.
"Lasst uns ein wenig Geduld bewahren"
Umso zurückhaltender waren die ersten Reaktionen der Türkei. Präsident Abdullah Gül räumte sogar ein, dass die Militärmaschine - eine alte F4-Phantom - den syrischen Luftraum verletzt haben könnte. Die Zusatzbemerkung, dass so etwas bei schnell fliegenden Fluggeräten "routinemäßig" vorkomme, mag auch einer gewissen Gesichtswahrung dienen. Auch EU-Minister Egemen Bagis wiegelte ab: "Lasst uns ein wenig Geduld bewahren und die Untersuchungen abwarten", sagte er.
Die besonnenen Reaktionen kontrastieren zu der gewissen Heißblütigkeit, zu der türkische Politiker in außenpolitischen Angelegenheiten neigen. Erdogans spektakulärer Zusammenstoß mit dem israelischen Präsidenten Schimon Peres beim Davoser Gipfel 2009 wegen Israels Gaza-Krieg fällt da ebenso hinein wie die Muskelspiele mit der EU im Zusammenhang mit Zypern. Doch im Bereich des Militärischen hat das türkische Establishment über die letzten zwei Jahrzehnte Konfrontationen strikt vermieden.
"Kollateralschaden" der Spannungen im Militärapparat
Dabei ist eine Luftraumverletzung per se kein Abschussgrund, auch wenn ein syrischer Militärsprecher dies in der Nacht zum Samstag so darstellte. Die Motivlage in der durchmilitarisierten Diktatur Assads ist schwer zu durchblicken. Wollte man durch einen Kraftakt von der eigenen Misere ablenken? Wollte man dem "untreuen Freund" Türkei eins auswischen?
Der wahre Grund könnte ein viel prosaischerer sein. Einen Tag zuvor war ein syrischer Militärpilot mit seiner MiG-21 nach Jordanien desertiert. Im Assad-Regime dürfte das für Enttäuschung und Zorn gesorgt haben. In den Fliegerhorsten könnten die Nerven blank liegen. Deserteuren droht der Tod. Ein ehemaliger syrischer Militär, der heute in Beirut lebt, will über konkrete Informationen verfügen, dass die Flak-Schützen die türkischen Phantom vom Himmel holten, weil sie glaubten, dass sich erneut einer der Ihrigen davonmachen wollte. Dann wäre der Verlust des türkischen Flugzeugs kein feindlicher Akt, sondern ein "Kollateralschaden" der Spannungen im syrischen Militärapparat gewesen.