Ach, Europa Vom Leichenschmaus

  • von Tilman Müller
Die EU soll doch noch eine Verfassung bekommen, 18 Länder sind dafür, eine Minderheit dagegen, aber die Minderheit ist tonangebend. Deutschland hat seit Januar die EU-Ratspräsidentschaft und will das Blatt wenden. Gut so.

Brüssel, Januar 2022. Die Kommissare trinken Champagner oben im 13. Stock des Berlaymont. Der Euro hat längst den Dollar als Leitwährung abgelöst, ist seit 2015 Zahlungsmittel auch in London und Zürich. Zuvor schon hatte die EU-34 (mit der Schweiz, Norwegen und den Balkanstaaten, aber ohne die Türkei) die USA wirtschaftlich überflügelt und sich nach dem Irak-Debakel der Amis mit neuer Eingreiftruppe als "fairer Weltpolizist" profiliert. Nur in der Forschung hinkte die EU noch hinter den USA her, doch nun im Januar 2022 steht im Ranking der "Washington Post" nicht mehr das Bostoner MIT an erster Stelle der weltweit führenden Universitäten, sondern das "Europäische Wissenschaftszentrum", 2011 auf Betreiben von Kommissions-Chef José Manuel Barroso in Amsterdam gegründet...

Wohin steuert XXL-Europa?

Und worüber wird in der Hauptstadt Brüssel gerade gestritten? stern-Korrespondent Tilman Müller schreibt über Macht und Malaisen unseres Kontinents – in seiner Kolumne "Ach, Europa", exklusiv alle zwei Wochen auf stern.de

Zugegeben: Dass es einmal so kommen wird, ist eher unwahrscheinlich. Doch komplett unrealistisch ist das Szenario nicht. Denn rein rechnerisch sind die EU-Staaten, die solch eine starke, bundesstaatlich orientierte EU wollen, derzeit deutlich in der Mehrheit. 18 der 27 Mitgliedsländer haben die Verfassung - sozusagen der Bauplan zur Stärkung der EU - bereits ratifiziert; Ende voriger Woche trafen sich ihre Vertreter in Madrid, um die in Frankreich und Holland vom Volk abgelehnte Charta wieder salonfähig zu machen.

Nur noch Wim Wenders

Doch nicht die Mehrheit der EU-Staaten, sondern die Minderheit, die lediglich Beobachter nach Madrid entsandt hatte, ging gestärkt aus der Konferenz hervor und sorgte dafür, dass zwischen Nordkap und Mittelmeer derzeit einmal mehr die Stunde der Euro-Skeptiker schlägt. Für die Briten ist ein von Brüssel dirigiertes Europa von jeher der blanke Horror, doch nun machen sich vor allem die Franzosen zum Wortführer der hartnäckigen Ablehnungsfront. Die Madrider Versammlung, polterte ein Sprecher ihrer EU-Mission, sei bloß "Jammerei über eine Leiche" - die bisher schrillste, regierungsoffizielle Verfassungsschelte aus dem Mutterland Europas, das sich durch die Ost-Erweiterung und seine chronische Exportschwäche (minus 30 Milliarden Euro in der Außenhandelsbilanz, während Deutschland mit 160 Milliarden Euro im Plus ist) nicht mehr im Zentrum des EU-Geschehens fühlt. Schweden, Tschechien, Irland, selbst Portugal - sie alle lehnen die Verfassung und mehr Dirigismus aus Brüssel mehr oder weniger ab. Mit im Bunde vor allem auch Polen, wo die regierenden Kaczynski-Zwillinge immer deutlicher nationalen Eigensinn demonstrativ über das Wohl Europas stellen, zuletzt vorige Woche in Brüssel, als sie knallhart ihren Kandidaten für den außenpolitischen Vorsitz im EU-Parlament durchsetzten und der verdiente deutsche Amtsinhaber Elmar Brok weichen musste.

Ruppige Auftritte kann sich die kleine, aber mächtige Front der Verfassungsgegner durchaus leisten, weiß sie doch die Bevölkerung Gesamteuropas hinter sich. Umfragen laufen drauf hinaus, dass die EU derzeit mehrheitlich wenig beliebt ist; die ältere Generation ist skeptisch, die jüngere gleichgültig. Spezielle Untersuchungen zeigen gar, dass Leser sich ausklinken, wenn in Zeitungs-Überschriften "Europa" auftaucht. Und kaum ein namhafter europäischer Künstler oder Intellektueller, sieht man mal von dem Filmemacher Wim Wenders ab, macht sich heute noch für die EU stark.

Merkel und Voltaire

Umso mutiger der Vormarsch der frischgebackenen EU-Ratspräsidentin Angela Merkel. Kürzlich präsentierte sie sich in Straßburg in Sachen Europa als "Jugendliche" und hielt den Skeptikern in Anspielung auf den guten alten Voltaire entgegen: "Europas Seele ist die Toleranz". Das mag irgendwie altmodisch klingen, belehrend oder bildungsbürgerlich. Aber hier hat die Kanzlerin nun mal wirklich recht. Wo bitte geht es denn heute in der Welt gleichermaßen tolerant und friedlich zu wie in Europa? In den USA bestimmt nicht. Und auf welchem anderen Kontinent sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts soziale Sicherheit und Umweltbewusstsein dermaßen weitgehend verbreitet wie bei uns? Im wirtschaftlich so fulminant emporstrebenden Asien vielleicht? Ganz sicher nicht.