Afghanistan Warum die Deutschen bleiben müssen

Von Christoph Reuter
Die Bundeswehr stockt ihre Truppen in Afghanistan auf. Das ist richtig so, auch wenn der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist. Doch die Deutschen sorgen im Norden für Ruhe. Und die hat die Region dringend nötig, denn sonst entzündet sich am Hindukusch womöglich eine viel größere Katastrophe.

Ein deutscher Verteidigungsminister, der mit falscher Begründung das Richtige fordert. Eine US-Regierung, die ihre Fehler korrigieren will, indem sie eben diese noch einmal begeht. Und eine deutsche Öffentlichkeit, die sich verwirrt vom afghanischen Chaos abwenden möchte: Der Krieg in Afghanistan scheint im Kern aus Missverständnissen zu bestehen.

Deutsche Politiker kennen die Umfragen, nach denen zwei Drittel der Deutschen den Einsatz ablehnen. Das Thema sei "toxisch", befand der SPD-Jungpolitiker Niels Annen auf einer Afghanistan-Reise. Damit könne man keine Wahlen gewinnen - aber sie sehr wohl verlieren. Also wird am liebsten gar nicht darüber geredet. Doch das wird sich rächen, spätestens, wenn es doch einmal einen vollbesetzten "Wolf"-Geländewagen, eine Unterkunft, eine Fußpatrouille trifft und es auf einen Schlag zehn tote Soldaten gibt wie bei den Franzosen im August. Dann kann Oskar Lafontaine sich sonnen in der Gewissheit, ja schon immer den Abzug gefordert zu haben.

Was soll die Bundeswehr in Afghanistan?

Was aber soll die Bundeswehr überhaupt noch in Afghanistan? Vom Ursprungsgedanken, aus Solidarität mit den USA nach dem 11. September 2001 Truppen dorthin zu schicken, bleibt immer weniger. Die Taliban waren nach dem Krieg 2001 zerschlagen, sie sind nicht immer noch da - sondern wieder. Schritt für Schritt haben sie sich in den Jahren 2004, 2005 reorganisiert, profitieren davon, dass vieles schiefgegangen ist: Von der Regierung in Kabul, mehrheitlich zusammengesetzt aus den Feinden der einstigen Taliban, fühlen sich vor allem die Paschtunen, größte Volksgruppe des Landes, als Afghanen zweiter Klasse behandelt.

Die Art der amerikanischen Kriegführung schafft eher neue Feinde, als dass sie die alten besiegen würde. Obwohl in Washington Politiker, Militärs, Geheimdienstler unisono beteuern, dass dieser Konflikt allein militärisch nicht zu gewinnen sei, versuchen sie weiterhin genau dies - und lassen sich überdies ohne jede Lernkurve von afghanischen Denunzianten benutzen, die ihre örtlichen Feinde als Taliban anschwärzen. Doch wer ein Dorf erstmal bombardiert hat, wird wenige Herzen gewinnen, wenn er dort hinterher einen Brunnen bohrt.

Trainingslager sind überflüssig

Auch al Kaida, von den Verteidigungsministern Peter Struck bis Franz Josef Jung zuletzt wieder als Menetekel aus der Kiste geholt, braucht längst keine Trainingslager in Afghanistan mehr: Wer sich heute sprengen möchte, besorgt sich Anleitung und Inspiration aus dem Internet. Überdies haben sich die Wanderungsbewegungen der internationalen Dschihadisten in den vergangenen Jahren verändert: Die Strategie, Anschläge in fernen, unbeteiligten Ländern zu verüben, gilt selbst intern als gescheitert. Wer partout kämpfen will, geht dahin, wo eh Krieg ist: bis vor kurzem in den Irak, heute nach Afghanistan.

Doch auch ohne al Kaida wird die Lage in der Region immer dramatischer: Pakistans Militärführung, der es seit Jahrzehnten egal gewesen ist, wer unter ihr Staatschef ist, wird der Geister nicht mehr Herr, die sie rief. All die jahrzehntelang gepäppelten Radikalislamisten, die in Kaschmir und Afghanistan auf pakistanische Rechnung kämpften, wenden sich gegen ihre einstigen Förderer. Und Pakistan ist ein gefährliches, zutiefst paranoides Land, in seinen Fundamenten gebaut auf der Furcht vor Indien, dem Erzfeind. Nur sechs Jahre ist es her, da stand die Welt kurz vor einem Nuklearkrieg zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan. Und nun ist die eine Nuklearmacht, Pakistan, dabei, in einen Bürgerkrieg zu gleiten, gegen den die Unruhe in Afghanistan sich wie ein Strohfeuer ausnehmen würde.

Das werden die Bundeswehreinheiten nicht verhindern können. Aber sie sorgen dafür, dass der Norden vergleichsweise ruhig geblieben ist - bis heute. Vereinzelter Beschuss und Selbstmordanschläge sind kein Ausdruck der Stärke der Taliban, während der Süden und Osten verbrannte Erde sind. Welche Nato-Truppe dort einzieht, egal, wie wohlwollend, wird von den Taliban angegriffen und hat nur noch die Wahl, sich einzuigeln oder zurückzuschlagen. Aber im Norden ist noch nichts entschieden, dort läuft es wirtschaftlich besser als in anderen Landesteilen, und das merken auch zigtausende Afghanen: Sie fliehen aus den Kampfzonen nach Kabul und nach Norden. Da am Ende die Afghanen entscheiden werden, wie sie leben wollen, ist es wichtig, dass eine Alternative existiert; dass die Menschen selbst erkennen können, was die Taliban ihnen bringen. Jedenfalls weder Essen, noch Wasser, noch Strom, noch Straßen.

Ausweglose Lage in Pakistan?

Es ist der einzige Ansatz, der funktioniert. Das könnte uns Deutschen nun egal sein, wenn wir glauben, dass wir jenseits von Terroranschlägen im eigenen Land nichts zu befürchten haben. Dem aber ist nicht so. Wenn Washingtons amtierender Regierung - wie auch den beiden Präsidentschaftskandidaten - nichts anderes einfällt, als noch mehr Soldaten zu schicken, werden sie die Kampfzonen Afghanistans ausweiten. Wenn sie überdies den Krieg auch nach Pakistan tragen, werden sie damit Pakistans nächstes Militärregime (der nächste Putsch ist nur noch eine Frage der Zeit) in eine ausweglose Lage zwingen: Entweder, das pakistanische Militär nimmt einen aussichtslosen Kampf mit immer größer werdenden Teilen der eigenen Bevölkerung auf - oder es kämpft gegen die US-Truppen. Und niemand weiß, wozu die jahrzehntelang im Kriegszustand mit Indien groß gewordenen Generäle fähig sind, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Nirgends steht die Welt so nah an einem Atomkrieg wie in Südasien. Um ihn zu verhindern, müssten Pakistan und Indien endlich ernsthaft in Friedensverhandlungen und Vertrauensaufbau getrieben werden - was erstaunlicherweise nicht geschieht. Und es müsste Afghanistan befriedet werden, um nicht zur Zündschnur einer noch viel größeren Katastrophe zu werden, als es der Krieg dort heute schon ist.

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