Dass ausgerechnet am Totengedenktag, an dem Chinesen die Gräber säubern und der vielen Millionen Kriegsopfer gedenken, ein Schulbuch in Japan genehmigt wurde, das unter anderem das von den Japanern verübte Massaker von Nanking (Nanjing) mit bis zu 300.000 Toten beschönigt, trieb die Empörung auf die Spitze. "Nieder mit den japanischen Imperialisten", rufen die Demonstranten, ziehen mit roten Fahnen durch die Straßen chinesischer Städte und fordern: "Kauft keine japanische Produkte". Über die Köpfe der Sicherheitskräfte fliegen Flaschen und Dosen.
In China sind zwar Demonstrationen gemeinhin verboten, weil sie sich gegen die Kommunistische Partei richten könnten. Doch für die größten antijapanischen Proteste seit der umstrittenen Annäherung zwischen China und Japan vor zwei Jahrzehnten räumten die Polizisten diesmal als Freund und Helfer sogar die Straßen frei. Das Gefühl des Nationalismus soll die Chinesen einen, und vereint fühlt man sich am leichtesten in Abneigung gegen andere. Schon seit einiger Zeit nutzen die Machthaber in Peking den Nationalismus als Instrument, um ihre Herrschaft zu stabilisieren. Den emotionale Protest gegen den Nachbarn nutzt die chinesische Regierung als Ventil für die steigenden sozialen Spannungen im Land. Wenn sie sich verrechnen sollten, könnte der chinesische Nationalismus das Riesenreich und seine Nachbarn in den Abgrund reißen.
Der japanisch-chinesische Krieg
Der chinesisch-japanische Krieg, der im Juli 1937 begann, markiert den Anfang der kriegerischen Expansion Japans, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte. Japan errang schnelle Erfolge gegen das vom Bürgerkrieg geschwächte und militärisch unterlegene China. Innerhalb relativ kurzer Zeit eroberten die japanischen Truppen den Osten des Landes und etablierten eine Kolonialherrschaft. Die Einnahme der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking (Nanjing) im Dezember 1937 gilt als besonders grauenvoll. Historiker sprechen von einer "Orgie von Plünderungen und Massenhinrichtungen". Das Internationale Militärtribunal für den Fernen Osten schätzte die Zahl der Menschen, die zum Teil auf grausamste Weise ermordet wurden, auf etwa 300 000, chinesische Schätzungen liegen sogar noch darüber. Außerdem wird den japanischen Truppen vorgeworfen, mindestens 20 000 Frauen misshandelt und dann ermordet zu haben. Nach manchen Schätzungen dauerte das Morden etwa sechs Wochen an, nach anderen bis Ende März 1938.
In Japan sind Darstellungen des Massakers von Nanking höchst umstritten. Kriegsverbrechen werden zwar eingeräumt, jedoch als weitaus weniger drastisch dargestellt. So kam es 1982 zu Spannungen zwischen Tokio und Peking, nachdem das japanische Erziehungsministerium die Erwähnung des Massakers in einem Schulbuch untersagt hatte. Neben dem Massaker von Nanking werden Japan vor allem Kriegsverbrechen an Frauen in den besetzten Ländern vorgeworfen. Bis zu 200 000 Frauen sollen in Korea, China und auf den Philippinen verschleppt worden seien. Diese so genannten Trostfrauen mussten den japanischen Soldaten in Bordellen zu Diensten sein. Zahlreiche dieser Frauen fielen den Brutalitäten der Soldaten zum Opfer, infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten, begingen Selbstmord oder wurden ermordet.
Aufruf über Internet und Handy
Die antijapanischen Demonstrationen begannen am Samstag in Peking, wo Botschaftsgebäude mit Steinen, Flaschen und Getränkedosen attackiert wurden. Am Sonntag griffen die Proteste auf mehrere Städte in Süd- und Ostchina über. In Schanghai wurden japanische Studenten verprügelt. Es waren die größten Proteste in China seit den Demonstrationen gegen die amerikanische und britische Botschaft nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft 1999 in Belgrad durch die Nato. Der Protestaufruf war über das Internet und mit Handys verbreitet worden.
Die staatlich kontrollierten Medien Chinas erwähnten die Proteste mit keinem Wort. Grund: Peking hat eine Nachrichtensperre verhängt. Die einzige Nachricht hatte am Samstag zu Beginn der ersten Demonstration die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua verbreitet, später aber aus ihrem Internetangebot zurückgezogen. Mit der Nachrichtensperre und strengen Kontrolle von Diskussionen im Internet wollen die Behörden eine weitere Eskalation vermeiden. In Japan ist der Katzenjammer unterdessen groß. Staatstragende Tageszeitungen haben verschiedene Gründe für die Ausschreitungen in China gefunden, nur praktisch keinen Grund auf Seiten Japans. Die Reaktion japanischer Medien ist symptomatisch für den Umgang in Japan mit der Frage der Kriegsvergangenheit.
Die Demonstrationen führten zu einer neuen Belastung der Beziehungen zwischen China und Japan. Schon in den Verteidigungsrichtlinien, die Japan im vergangenen Dezember verabschiedete, wurde China erstmals als Bedrohung aufgeführt. In Tokio bestellte jetzt Japans Außenminister Nobutaka Machimura Chinas Botschafter Wang Yi ein. Er forderte eine Entschuldigung und Entschädigung. Die Vorfälle von Vandalismus auch gegen japanische Unternehmen seien "ein ernstes Problem". Von japanischer Seite wurde zudem beklagt, dass zwar Hundertschaften die Botschaftsgebäude in Peking gesichert hätten, aber nicht gegen Steinewerfer eingeschritten seien.
Chinas Außenministerium konterte, die chinesische Seite sei "nicht verantwortlich für den heutigen Zustand der Beziehungen". Japan müsse mit seiner Vergangenheit "und anderen großen Grundsatzfragen, die die Gefühle des chinesischen Volkes betreffen, angemessen umgehen". Es liege an Tokio, mehr zu tun, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, nicht an Peking. Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Qin Gang, zeigte aber Verständnis für die Verärgerung Japans und sagte, die Demonstranten seien aufgefordert worden, geordnet ihre Meinungen zu äußern und sich an die Gesetze zu halten. Es dürfe nicht zu "exzessive Aktionen" kommen. Das Buch sei aber "Gift" für Japans Jugend.
Invasion und Gräueltaten
Tief sitzt unter alten wie jungen Chinesen der Zorn darüber, dass sich Japan bis heute nicht angemessen für seine Invasion und Gräueltaten in China entschuldigt hat. Mit hilfloser Empörung werden die Besuche japanischer Regierungschefs im Tokioter Yasukuni-Schrein verfolgt, wo auch japanische Kriegsverbrecher verehrt werden. Die Ansprüche auf Inseln und Bodenschätze im Meer dienen in China als Beweis für Japans anhaltende Expansionsgelüste. Japan wird vorgeworfen, anders als Deutschland, seine "Aggressionsgeschichte" nicht aufgearbeitet zu haben. Zwar gibt es auch in Japan kritische Stimmen, es findet jedoch keine grundsätzliche und einheitliche politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt. Auf Betreiben der Amerikaner wurde Kaiser Hirohito nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zur Rechenschaft gezogen - so konnte gewissermaßen auch alle anderen keine Schuld treffen, abgesehen von einer Handvoll militärischer und ziviler Sündenböcke, die "der Siegerjustiz zum Opfer fielen". Die Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit geriet damit aufs Nebengleis.
Mit Misstrauen beobachtet heute Peking, wie Ministerpräsident Junichiro Koizumi eine stärkere militärische Rolle Tokios auf internationaler Ebene anstrebt, sich für Taiwan zuständig sieht und die Volksrepublik China als militärische Bedrohung beschreibt. Dabei ist Koizumi auf Pekings Unterstützung für seinen Wunsch nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat angewiesen. Das selbstbewusstere Auftreten Tokios ermuntert zugleich nationalistisch-konservative Kreise in Japan. Bezeichnend ist die stärkere Beschönigung der Kriegsverbrechen in den neuen Schulbuchausgaben. "Die Politik der Hardliner führt die Japaner in die Irre und stachelt die Gefühle der Chinesen an, so dass beide Länder in eine Konfrontation steuern", warnte ein Experte der chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking im Parteiorgan "Volkszeitung".