Angriff auf Bergkarabach In Stepanakert sitzen die Menschen auf gepackten Koffern. Doch eine Flucht scheint ausgeschlossen

Bewohner Stepanakert
Die humanitäre Lage für die Menschen in Stepanakert verschlechtert sich mit jedem Tag
© Siranush Sargsyan / DPA
Die Armenier von Bergkarabach bleiben in ihrer Exklave gefangen, eine Flucht nach Armenien ist vorerst unmöglich. Erste Gespräche mit Vertretern der aserbaidschanischen Regierung sind ohne konkretes Ergebnis zu Ende gegangen.

Zwei Tage nach Beginn der Offensive Aserbaidschans gegen die Region Berg-Karabach ist das Schicksal Zehntausender Armenier, die dort de facto gefangen sind, völlig ungewiss. Am Dienstag hatte die aserbaidschanische Armee unter dem Deckmantel einer "antiterroristischen Operation" einen Angriff auf die seit gut drei Jahrzehnten selbstverwaltete Region begonnen. Die militärisch klar unterlegenen Armenier stimmten nach 24 Stunden einem Waffenstillstand zu, der einer Kapitulation gleichkam. Laut Angaben der armenischen Führung von Berg-Karabach kamen während der jüngsten Offensive etwa 200 Menschen ums Leben, zehn von ihnen Zivilisten. 400 Menschen wurden verletzt, darunter 40 Zivilisten. Auch auf Seiten der aserbaidschanischen Armee werden Opfer vermeldet. 

Am Donnerstagmorgen trafen sich wie vereinbart zwei Vertreter der Armenier von Berg-Karabach mit dem aserbaidschanischen Beauftragten für Kontakte mit den Armeniern, dem Parlamentarier Ramin Mamedow. Das Treffen fand in Jewlach, einer aserbaidschanischen Stadt etwa hundert Kilometer von Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert entfernt, statt. Bilder von dem Treffen zeigen mehrere Männer in einem Raum, im Hintergrund demonstrativ die Flagge Aserbaidschans. Von der aserbaidschanischen Präsidialverwaltung hieß es, Mamedow habe Pläne zur "Reintegration" der Karabach-Armenier in den aserbaidschanischen Staat vorgestellt, die Armenier hätten um Benzin und Lebensmittel gebeten. Zudem habe man sich auf ein weiteres Treffen geeinigt. 

Humanitäre Lage spitzt sich zu

Die armenische Delegation reiste zurück nach Stepanakert, ohne eine Erklärung abzugeben. Erst am Abend tauchte auf der offiziellen Seite der Behörden eine praktisch inhaltsfreie Nachricht darüber auf, dass das Treffen in "professioneller Atmosphäre" stattgefunden habe und die Gespräche fortgesetzt werden sollten. In den Kommentaren finden sich viele Aufrufe, endlich den Landkorridor in Richtung Armenien wieder zu öffnen, damit die Menschen aus Berg-Karabach auf armenisches Staatsgebiet fliehen können. Dazu scheint Aserbaidschan aber derzeit nicht bereit zu sein. Die armenische Selbstverwaltung in Berg-Karabach ist seit der militärischen Kapitulation vom Mittwoch machtlos. 

Soldaten der russischen "Friedensmission" in Berg-Karabach begleiteten die Karabach-Vertreter zwar, nahmen aber nicht an den Gesprächen teil. Am Donnerstag wurde bekannt, dass am Tag zuvor mindestens vier russische Soldaten bei einer Attacke der Aserbaidschaner getötet wurden, darunter der stellvertretende Kommandeur der Mission. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew entschuldigte sich heute dafür in einem Telefongespräch bei Russlands Präsident Wladimir Putin. Angeblich seien der verantwortliche Kommandeur entlassen und die schuldigen Soldaten verhaftet worden. Im Vergleich zur Staatskrise, die der Abschuss eines russischen Jets durch die Türkei 2015 heraufbeschworen hatte, hielt sich Moskau diesmal jedoch auffällig bedeckt.

Augenzeugen aus Stepanakert berichten, dass die Menschen seit gestern wortwörtlich auf gepackten Koffern sitzen: Viele warten darauf, dass ein Fluchtkorridor in Richtung Armenien geöffnet wird. Die humanitäre Lage, die seit der Blockade der Straße nach Armenien durch die aserbaidschanische Armee vor etwa neun Monaten schon prekär war, wird nun noch dramatischer.

Brüchiger Waffenstillstand in Bergkarabach

Tausende Flüchtlinge sind in den vergangenen zwei Tagen nach Stepanakert geflohen – aus Gegenden, die schon von den Aserbaidschanern besetzt wurden. Die Kleinstadt Martakert im Norden Berg-Karabachs (aserbaidschanisch: Agdere) soll von aserbaidschanischen Truppen komplett umzingelt sein, eine Flucht unmöglich. 

Im Zentrum von Stepanakert war Videos zufolge am Morgen und am Nachmittag immer wieder Maschinengewehrfeuer zu hören. Während die armenische Seite Baku vorwarf, den vereinbarten Waffenstillstand gebrochen zu haben, wies Aserbaidschan die Vorwürfe zurück. Im Großen und Ganzen scheint der Waffenstillstand jedenfalls zu halten. 

Zugleich wurde ein Video öffentlich, auf dem Soldaten der Armee von Berg-Karabach aus einem Keller heraus zum Widerstand gegen die Aserbaidschaner aufrufen. Sie wollten den Kampf fortsetzen, auch wenn die Zivilbevölkerung das Gebiet verlasse, um sich in Sicherheit zu bringen, erklären die Männer.

Hintergrund dürfte sein, dass Baku angekündigt hat, angebliche Kriegsverbrecher unter den Karabacher Soldaten vor Gericht zu stellen. Ende Juli hatten die Aserbaidschaner den 68-jährigen Wagif Chatschatrjan festgenommen, den das Rote Kreuz zur Behandlung nach Armenien bringen wollte. Er soll nun für angebliche Kriegsverbrechen im Jahr 1991 in Aserbaidschan vor Gericht gestellt werden. 

Am Donnerstagabend wandte sich der Premierminister Armeniens, Nikol Paschinjan, an seine Bürger. Er kritisierte erneut die russische "Friedensmission" dafür, dass diese ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Armenien sei zwar vorbereitet für die Aufnahme von bis zu 40.000 Flüchtlingen, aber zum jetzigen Zeitpunkt sehe man "keine direkte Bedrohung für die armenische Bevölkerung von Berg-Karabach". Die Bevölkerung Karabachs solle sicher und in Frieden in ihrer Heimat weiterleben, den Vertriebenen müsse umgehend die Rückkehr in ihre Häuser ermöglicht werden. Paschinjan sieht sich seit Dienstag zum Teil gewalttätigen Protesten in der armenischen Hauptstadt Jerewan ausgesetzt. "Den Protestierenden warf er vor, den von der Lage in Berg-Karabach ausgelösten Aufruhr für einen Putsch missbrauchen zu wollen."