Bergkarabach Aserbaidschan verpasst Putin eine Ohrfeige – doch seine Propaganda stürzt sich auf Armenien

Russland: Wladimir Putin braucht den Nord-Süd-Korridor in den Iran über Aserbaidschan und die Türkei
Russland braucht den Nord-Süd-Korridor in den Iran über Aserbaidschan und die Türkei. Also wechselt Wladimir Putin die Seiten und nimmt dafür auch einen Affront hin. 
© Vladimir Smirnov/TASS PUBLICATION / Imago Images
Die militärische Offensive Aserbaidschans gegen Bergkarabach war auch für Wladimir Putin ein Affront. Doch Russland muss seine Karten im Kaukasus neu mischen. Also wendet Moskau seine Propaganda-Maschine gegen den langjährigen Verbündeten Armenien. 

Lange hat Ilham Alijew auf den passenden Zeitpunkt gewartet. Seit 20 Jahren sitzt der aserbaidschanische Machthaber im Amtssessel des Präsidenten. Am 19. September sah er schließlich den Zeitpunkt für sein großes Vorhaben gekommen: die endgültige Einverleibung von Bergkarabach in sein Reich. Während Russland in seinem Krieg in der Ukraine versinkt und der Westen auf die ukrainischen Schlachtfelder blickt, schlug Alijew mit einer großangelegten Militäroffensive gegen Bergkarabach los. Bereits einen Tag später mussten die pro-armenischen Kämpfer eine Waffenstillstandsvereinbarung akzeptieren.

Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, in dem Gebiet leben aber überwiegend Armenier. Aserbaidschan und Armenien kämpfen seit den 90er Jahren um das Gebiet – seit beide Länder nicht mehr durch sowjetische Ketten aneinander gebunden sind. Im Herbst 2020 brach der bis dahin größte Konflikt aus. Bei einem 44-Tage-Krieg eroberte Aserbaidschan weite Teile der Region. Beendet wurde der Konflikt in einer gemeinsamen Erklärung – ausgehandelt unter Vermittlung von Wladimir Putin. Bergkarabach sollte demnach zu Aserbaidschan gehören. Über fünf Jahre sollten dort russische Friedenstruppen stationiert werden. Unterzeichnet wurde die Vereinbarung auch von Putin. 

Als Alijew den Befehl zu seiner sogenannten "Anti-Terroroperation" in Bergkarabach gab, griff er auch die russischen Friedenstruppen an. Das aserbaidschanische Militär beschoss ein russisches Militärfahrzeug. Fünf Menschen starben, unter ihnen auch der stellvertretende Kommandeur der russischen Friedenstruppen. 

Kreml nimmt Tod von russischen Soldaten schweigend hin 

Als der Kreml am Anfang des Jahres 2022 an einem Anlass für den Angriff für die Ukraine bastelte, war Putin auch ein fingierter Überfall auf einen vermeintlichen FSB-Grenzposten recht. Das Geschrei der Propaganda nach dieser Inszenierung war ohrenbetäubend. Die Ukraine habe die russische Autonomie angegriffen, so der Tenor. Nun aber starben tatsächlich fünf russische Soldaten. Und was hört man aus dem Kreml? Nichts. 

Das Verteidigungsministerium erstattete über den Tod der eigenen Militärs mit einem einzigen Satz Bericht. Es folgten keine genauen Informationen, weder die Namen der Soldaten noch die Umstände ihres Todes. Von Putin gab es bislang keinen Kommentar zu dem Vorfall. Aus dem Außenministerium kamen keine wutschäumenden Anschuldigungen. Und auch die Kreml-Propagandisten hüllten sich in Schweigen. Im Kreml beschloss man offenbar, den Tod von fünf Soldaten einfach nicht zu bemerken.

Diese Reaktion der russischen Führung zeugt nicht nur von der Verachtung gegenüber eigenen Soldaten, sondern auch von der aktuellen Rolle Russlands auf der Weltbühne. 

Propaganda beginnt Ablenkungs-Manöver

Der aserbaidschanische Machthaber Alijew handelte in dem Wissen, dass er von Moskau nichts zu befürchten hat. Er griff Armenien an, obwohl Russland in Armenien weiter einen Verbündeten sehen will; obwohl sich Armenien mit Russland in einem militärischen Bündnis befindet. Doch der Kreml schluckte den Affront – weil Putin gar nichts mehr anderes übrig bleibt. Aserbaidschan ist mit der Türkei verbündet. Und Putin braucht Erdogan wie noch nie zuvor. 

Also führte die Kreml-Propaganda in den vergangenen Tagen eindrücklich vor, dass Moskau bereit ist, seinem Verbündeten Armenien in den Rücken zu fallen, um die Beziehungen zu Baku und Ankara aufrechtzuerhalten. Um den Verrat Moskaus an dem Verbündeten vergessen zu machen, schimpfen die Propagandisten nun den armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan einen Verräter – alle wir immer unisono. 

"Du amerikanischer Schakal! Wir sollen also für dich Krieg führen?! Das ist deine Schuld, Paschinjan", empörte sich einer der Moderatoren des Senders "Solowjow Live". Dass ein militärisches Bündnis genau für den Zweck der gegenseitigen militärischen Hilfe existiert, ließ er aber lieber unerwähnt. Der Hausherr Wladimir Solowjow legte nach: "Hier ist euer Verräter! Er hat aufgrund seines Hasses auf den Karabach-Clan, der vor ihm an der Macht war, eine tausendjährige Geschichte verraten", schrie der meist in Schwarz gewandte Diener des Kremls in seiner höchst aggressiven Manier. 

Propaganda erfindet gute und böse Armenier 

Doch ausgerechnet zwei aus Armenien stammende Propagandisten übertrafen Solowjow in seinen Hass-Tiraden: Margarita Simonjan und ihr Mann Tigran Keossajan. "Was habt ihr bekommen, dass nach dem 44-tägigen Krieg diese Missgeburt und Verräter, der sich in Bunkern versteckt hielt, zum einen am Leben geblieben ist und zum anderen wiedergewählt wurde?", wandte sich Keossajan an die armenische Bevölkerung und meinte damit Paschinjan, der 2021 zum Premierminister wiedergewählt worden war. 

Mehr noch: Der Propagandist im Dienst des Kreml beschuldigte nicht etwa das aserbaidschanische Militär, am Tod der russischen Soldaten verantwortlich zu sein, sondern das armenische Volk. "Wenn dort russische Friedenssoldaten sterben, dann sterben sie für jene Armenier, die ihr – formale Armenier, deren Nachnamen mit '-jan' enden – zusammen mit eurem Paschinjan verraten habt!", blaffte Keossajan mit zur Schau getragenem Pathos. 

Keossajan unterteilt die Armenier in gute und böse. Die Guten sind dabei die, die Putin unterstützen – ihn selbst inbegriffen. Die Bösen sind die, die sich wie Paschinjan von Russland abwenden wollen. Sie gehören für den Kreml-Propagandisten vor ein Gericht. Allerdings stellt er sich unter einem Gericht etwas abseits der rechtsstaatlichen Justiz vor. Die aus seiner Sicht bösen Armenier sollen ihre lebenslangen Haftstrafen in einem "Erdloch" absitzen. Allen voran Paschinjan selbst. "Generationen von armenischen Schülern sollen dann zu dem Erdloch geführt werden und die stinkende, mit dreckigen Haaren bedeckte Missgeburt am Boden des Erdlochs gezeigt bekommen. Ihnen soll dann gesagt werden: Dies ist der Verräter, der die Schuld am Tod Tausender und an der Erniedrigung unseres Volkes trägt. (...) Genauso ein Schicksal wünsche ich dir, du Abschaum", kam Keossajan zum Abschluss seiner Hassrede. 

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Kreml-Propagandistin: "Ich bin das armenische Volk"

Seine Ehefrau und Chefin des Senders RT, Margarita Simonjan, führte die Tirade anderenorts fort. "Das armenische Volk hat Paschinjan nicht gewählt. Ich bin das armenische Volk, mein Mann, Tigran, ist das armenische Volk. In Russland leben bei weitem mehr Leute als in Armenien. (..) Alle Leute, die ich kenne und die hier leben, haben von Anfang an verstanden, was das für ein Judas ist", behauptete Simonjan in einer Sendung von Wladimir Solowjow

"Bergkarabach ist ein Heiligtum Armeniens", führte Simonjan weiter aus. Das Gebiet sei für Armenier das, was die Krim für Russen sei. Dabei beeilte sie sich klarzustellen, dass sie sich sowohl als Russin als auch Armenierin identifiziert. "Ich bin in Russland geboren. Ich bin hier aufgewachsen und bin jetzt natürlich auch hier. Alle meine Großmütter und Großväter sind hier geboren worden. Aber ethnisch bin ich Armenierin, und zwar eine reinrassige." Es ist wohl diese Ideologie, die Simonjan hier erkennen lässt, das sie zu dem Glauben verleitet, sie und ihr Mann sollten das Oberhaupt Armeniens wählen können – auch wenn sie beide in Russland geboren sind.

Der Verlust von Bergkarabach sei ein "unglaublicher Schmerz". "Dieses Land ist mit Blut getränkt und blickt auf eine tausendjährige Geschichte zurück. Und nun ist es innerhalb eines Tages einfach weg. Natürlich wird da niemand bleiben", konkludierte sie. Simonjan ist sich der weitreichenden Konsequenzen, die nun der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach drohen, vollkommen bewusst. Aber die Schuld daran trägt im Narrativ der Kreml-Propaganda nicht der aserbaidschanische Diktator, oder gar der Kreml, der seinem Verbündeten nicht beistehen konnte. Nein, die Schuldigen sind die Armenier, die Paschinjan gewählt haben. 

"Die Schuld daran tragt ihr alle, die diesen Judas, diesen Menschen ohne Herz, Ehre und Gewissen gewählt habt. Der das Heiligtum seines Volkes verraten und sein Volk verkauft hat", wiederholte Simonjan das Mantra, das den Propagandisten aus dem Kreml vorgegeben worden ist. 

Ein Narrativ, drei Aufgaben 

Das Narrativ hat mehrere Aufgaben zugleich. Erstens: Die Frage nach der Tatenlosigkeit des Kremls soll im Keim erstickt werden. Putin will nicht als Verräter am militärischen Bündnispartner Armenien dastehen. Zweitens: Das Narrativ ist eine Geste in Richtung von Aserbaidschan. Moskau signalisiert Baku eine Konsequenzlosigkeit – sowohl für den Tod der russischen Soldaten als auch für den Bruch der gemeinsamen Vereinbarung. Russland vollzieht damit einen demonstrativen Seitenwechsel. Während Armenien geopolitisch wenig zu bieten hat, ist Aserbaidschan ein Verbündeter der Türkei. Russland braucht den Nord-Süd-Korridor in den Iran über Aserbaidschan sowie die Türkei als alternative Handelsroute. Und Drittens: Das Narrativ erschafft einen neuen Feind und erklärt den Russen gleichzeitig, warum sich ein weiterer ehemalige Sowjetstaat gegen Russland wendet. 

Tatsächlich ist es diese allmähliche Abkehr Armeniens von Russland, die Putin Angstschauer über den Rücken jagt. Das Szenario einer zweiten Ukraine ist sein Albtraum. Und die eigene Angst verzeiht Putin nicht. Das musste erst vor kurzem Jewgeni Prigoschin am eigenen Leib erfahren. 

Und doch schlägt der Kreml und mit ihm seine Propaganda denselben fatalen Weg ein. Von den TV-Bildschirmen schallen wieder die altbekannten Parolen. Nun ist es Armenien, das seine bloße Existenz Russland zu verdanken hat. 

Das Märchen von Mütterchen Russland 

Die Armenier müssten sich tief "vor Mütterchen Russland dafür verbeugen, dass das armenische Volk seinerzeit überhaupt in seiner Existenz gerettet wurde. Ohne Russland wäre die gesamte Nation längst vernichtet worden", versuchte Simonjan ihrem Publikum weiszumachen. Sie selbst habe wie viele Armenier in Russland eine Heimat gefunden. "Ich fühle mich als ein Teil dieser riesigen Heimat. (...) All jene, die es nun wagen, in Richtung meiner Heimat zu schnauben oder zu fragen, warum wir sie nicht beschützt und gerettet haben, sind Menschen, die einen Führer gewählt haben, der Bergkarabach nicht in seiner Unabhängigkeit und nicht als Teil von Armenien anerkannt hat."

Genau dies sah auch die Vereinbarung zwischen Paschinjan, Alijew und Putin vor, die nach dem 44-tägigen Krieg geschlossen wurde. Aber daran wird in Russland niemand erinnert werden.