Russische Winteroffensive Chef der ukrainischen Streitkräfte: "Keinen Zweifel , dass sie es in Kiew noch einmal versuchen werden."

Seit Beginn des Krieges hat Walerij Saluschnyj zehn seiner Generäle entlassen.
Seit Beginn des Krieges hat Walerij Saluschnyj zehn seiner Generäle entlassen.
© Picture Alliance
Walerij Saluschnyj, Chef der ukrainischen Streitkräfte, nimmt an, dass Russland eine neue Armee von 200.000 Mann aufbaut. Er fürchtet einen neuen Angriff auf Kiew, der schon in wenigen Wochen beginnen könnte.

Walerij Saluschnyi ist ein General mit eisernen Nerven. Nur so konnte er den russischen Ansturm auf Kiew und Charkow aufhalten und die Russen schließlich zurückwerfen. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist das politische Gesicht des Widerstandes, doch auf dem Schlachtfeld kämpft Vier-Sterne-General Saluschnyi gegen die russische Armee. Nun gab er dem britischen "Economist" eines seiner seltenen Interviews.

Beim Einmarsch in die Ukraine hatte Putin keine 200.000 Mann mobilisiert. Inzwischen sind die russischen Streitkräfte weit zahlreicher. Saluschnyj nimmt an, dass tief in Russland eine neue Streitmacht aufgestellt wird.

"Russland bereitet neue Ressourcen vor ... 100 Prozent", sagte der General dem "Economist". "Wir müssen uns auf den neuen Krieg vorbereiten, der im Februar, bestenfalls im März und schlimmstenfalls Ende Januar beginnen kann." Von den Berichten über Pannen bei der Mobilisierung darf man sich nicht blenden lassen. "Die russische Mobilisierung hat funktioniert", so der General. "Es ist nicht wahr, dass ihre Probleme so schlimm sind, dass diese Menschen nicht kämpfen werden. Sie werden kämpfen. Der Zar sagt ihnen, sie sollen in den Krieg ziehen, und sie ziehen in den Krieg."

Zweite Schlacht um Kiew

Derzeit konzentrieren sich die Kämpfe um die Gegend um Bachmut und Soledar. Doch Saluschnyj erwartet den Hauptstoß der kommenden Offensive nicht im Donbass.  "Es wird nicht im Donbass beginnen, sondern in Richtung Kiew, von Weißrussland aus, ich schließe auch die südliche Richtung aus der Krim nicht aus. Die Russen bereiten etwa 200.000 frische Soldaten vor. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie es in Kiew noch einmal versuchen werden."

Saluschnyj zufolge war der Angriff auf die ukrainische Hauptstadt "militärisch die richtige Entscheidung – der einfachste Weg, ihr Ziel zu erreichen. Ich hätte dasselbe getan." Der Chef des russischen Generalstabs, Valery Gerasimov, konzentriere sich nun auf den Donbass, "um die Ressourcen zu erhalten, die ihm noch geblieben sind".

Das Interview im "Economist" dient auch dazu, die Verbündeten zu mehr Anstrengungen aufzurufen. Dafür wirft Saluschnyj, der Held von Kiew, seine enorme Reputation in die Waagschale. Die ukrainische Armee benötigt dringend neue Ausrüstung.  "Ich weiß, dass ich diesen Feind besiegen kann. Aber ich brauche Ressourcen. Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer, 500 Haubitzen."

Mehr Unterstützung nötig

"Dann denke ich, dass es völlig realistisch ist, alle seit Kriegsbeginn eroberten Gebiete zurückzuerobern. Aber ich kann es nicht mit zwei Brigaden machen. "Ich bekomme, was ich bekomme, aber es ist weniger als das, was ich brauche."

Die erfolgreichen Gegenoffensiven bei Charkow und Cherson gelangen den ukrainischen Streitkräften mit Hilfe der Waffenlieferungen der Verbündeten. Allein über 300 Kampfpanzer vom Typ T-72 wurden hauptsächlich von Polen und der Slowakei gestellt. Doch diese Kräfte werden in den harten Kämpfen unentwegt abgenutzt. Um der kommenden Offensive zu widerstehen, benötigt die Ukraine neue Ausrüstung.

Die Russen werden weiter kämpfen, so der General, bis ihre Ressourcen aufgebraucht sind. Und das kann dauern. Saluschnyj wies darauf hin, dass der Kreml auf bis zu 1,5 Millionen Reservisten zurückgreifen kann.

Moskau bindet die ukrainischen Truppen

Er versicherte, dass auch Kiew an einer "großen Operation" arbeitete. Doch die russischen Streitkräfte tun alles in ihrer Macht Stehende, um Kiew daran zu hindern, zurückzuschlagen. So machen die blutigen Kämpfe Sinn, auch wenn Moskau kaum Geländegewinne erzielt. "Deshalb sehen wir Schlachten entlang der 1500 km langen Frontlinie ... Sie binden unsere Truppen und erlauben uns nicht, uns neu zu gruppieren."

"Das nächste Problem, das wir jetzt haben, ist, diese Linie zu halten und nicht mehr an Boden zu verlieren. Es ist entscheidend. Unsere Truppen sind jetzt alle in Kämpfe verwickelt, sie bluten."

Es gibt auch einen Grund für Optimismus. Saluschnyj sagte, dass die neue Armee eine ähnliche Größe haben wird wie die, die im Februar angegriffen hat, aber nicht die gleiche Qualität erreichen wird. Der General geht davon aus, dass Putin den Großteil seiner besten Ausrüstung verloren hat, und dass auch die besten Soldaten und Kommandeure bereits ausgefallen sind.

Quelle: Economist