Es ist eine 180-Grad-Wende mit dramatischen Folgen. Nach fast drei Jahren mit Lockdowns, Zwangsquarantäne und Massentests hat China Anfang Dezember seine strikte Null-Covid-Politik aufgegeben. Nun schießen in der gesamten Volksrepublik die Infektionszahlen in die Höhe, allein in der Hauptstadt Peking ist nach Schätzungen bereits jeder Zweite infiziert. Viele Restaurants, Geschäfte und Banken haben wegen Personalmangel geschlossen – in Krankenhäusern und Krematorien herrscht dagegen Hochbetrieb.
Während die Regierung am liebsten nur noch von einer harmlosen "Corona-Erkältung" spricht, bilden sich in Peking Schlangen vor den Krematorien, die mit der Einäscherung der Toten nicht mehr hinterher kommen. "Seit der Covid-Öffnung sind wir mit Arbeit überlastet", schildert eine Mitarbeiterin die Lage dem "Wall Street Journal". "Im Moment sind es 24 Stunden am Tag. Wir kommen nicht nach."
Corona-Welle trifft Krankenhäuser unvorbereitet
Auch in vielen Krankenhäusern ist die Lage dramatisch. In Chongqing, einer Stadt im Südwesten des Landes, kann sich das Volkskrankenhaus Nr. 5 vor Corona-Patienten kaum noch retten. Schon die Eingangshalle wurde zur behelfsmäßigen Covid-Station umfunktioniert, berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Abgegrenzt durch rot-weißes Klebeband steht dort rund ein Dutzend Betten mit überwiegend älteren Patienten, im Nebenraum bekommen etwa 40 weitere Patienten Infusionen. Einige husten. Sie alle haben Covid-19, sagt eine Krankenschwester.
Die Corona-Welle erwischt die Kliniken auf kaltem Fuß. Statt Krankenhäuser auszubauen und mehr Intensivbetten zu schaffen, hatte die Regierung von Xi Jinping lieber im großen Stil Quarantänelager gebaut. Auch die Impfkampagne wurde nicht genug vorangetrieben. Besonders die vielen älteren Menschen, die als Risikogruppe gelten, sind unzureichend geschützt: Nur 70 Prozent der Ü-60-Jährigen und 40 Prozent der Menschen über 80 haben einen Booster erhalten. Inzwischen ist die letzte Impfung bei vielen von ihnen so lange her, dass sie das Virus voll trifft. Hinzukommt, dass die angepassten Impfstoffe aus dem Ausland in der Volksrepublik aus politischen Gründen nicht zugelassen sind.
Ähnlich prekär sieht die Lage an der Medikamenten-Front aus. Nach den Lockerungen waren neben Schnelltests auch Fieber- und Erkältungsmedizin sofort ausverkauft – von Nachschub kein Spur. "Wir Chinesen sind zu viele", erklärt eine Apothekerin ihre leeren Regale.
China lockert die Corona-Regeln – und das Leben kehrt langsam wieder zurück

Chinas 180-Grad-Wende: Von Null-Covid zu null Plan
Unterdessen wird die Regierung nicht müde, davon zu sprechen, dass die Kehrtwende oder vielmehr "Optimierung", wie es beschönigend heißt, "zum richtigen Zeitpunkt" gekommen sei. Die Pandemie sei jetzt "kontrollierbar", wird beteuert. Das Parteiblatt "Global Times" spricht von einer "besseren Balance zwischen epidemischer Vorbeugung und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung".
Dabei könnte der Unterschied zur knapp drei Jahre verfolgten Null-Covid-Strategie kaum drastischer sein. Während noch vor ein paar Wochen Massentests, Quarantäne und Kontaktverfolgung zum Alltag der meisten Chinesinnen und Chinesen gehörten, erlauben nun die ersten Metropolen Infizierten, wieder zu arbeiten. Vorausgesetzt, sie zeigen keine oder nur leichte Symptome.
Angesichts der planlos wirkenden Strategie zeigen sich viele in den sozialen Netzwerken fassungslos und wütend. "In den letzten drei Jahren gab es keine Vorbereitung, und plötzlich sind die Beschränkungen aufgehoben und man darf krank zur Arbeit gehen – unsere Leben sind genauso wertlos wie Ameisen", heißt es in einem vielfach gelikten Kommentar auf dem chinesischen Twitter-Äquivalent "Weibo".
Andere warnen sogar davor, nicht nach China zurückzukehren. "Ich hatte in den letzten Jahren nie Covid, als ich im Ausland gelebt habe, aber ich habe es einige Tage nach meiner Rückkehr bekommen. (...) Jeder, den ich kenne, bekommt Covid und hat Fieber – wenn Sie also in letzter Zeit das Land verlassen konnten, kommen Sie nicht zurück", schreibt ein Nutzer auf der beliebten Plattform "Xiaohongshu".
Verfälschte Covid-Totenzahlen
"Eine Rückkehr zu voller Normalität kann im Frühjahr erwartet werden", will die "China Daily" Hoffnung machen. Doch vorher werden noch drei Corona-Wellen durch das Land rollen, sagen Experten voraus. Die erste wird bis Mitte Januar vor allem die Städte treffen. Die zweite wird dann Mitte Februar folgen, wenn Hunderte Millionen Menschen zum chinesischen Neujahrsfest am 22. Januar traditionell in ihre Heimatdörfer reisen werden. Mit der Rückkehr der Reisenden wird die dritte Infektionswelle bis Mitte März erwartet. Am Ende werden sich laut Schätzungen 80 bis 90 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen mit dem Virus infizieren. Die chinesische Stadt Qingdao meldet aktuell 500.000 neue Corona-Infektionen – pro Tag wohlgemerkt. Laut Berichten von "Bloomberg" und der "Financial Times" haben sich in China seit Anfang Dezember 248 Millionen Menschen oder 18 Prozent der Bevölkerung mit Corona infiziert.
Auch wenn die Krankheit mit Omikron nicht mehr so schwer verläuft, drohen dem Land laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehrere Hunderttausend Corona-Tote. Manche Studien gehen sogar von fast einer Million aus. Das Problem: Viele an Covid Verstorbene werden laut der chinesischen Statistik nicht gezählt, da die Todesursache als Vorerkrankung vermerkt wird. Nur wer nach einer Infektion an Lungenentzündung oder Versagen der Atemwege gestorben ist, wird nach der neuen Definition offiziell als Corona-Toter gemeldet.
Kritik kommt von der WHO: Ohne das Ausmaß der Infektionen zu kennen, sei es schwierig entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, heißt es. China müsse lernen, wie solche Angaben schneller akkurat ermittelt werden können. Die entscheidende Frage bleibe, ob in den nächsten Wochen genügend geimpft werden könne, um die Folgen der Omikron-Ausbreitung abzufedern.
Doch nach fast drei Jahren strengster Kontrolle scheint es, als hätte die Regierung in Peking den Kampf gegen das Virus aufgegeben.
Quellen: "New York Times", "Washington Post", "Wall Street Journal", "BBC", "Guardian", "Reuters", mit DPA- und AFP-Material