Sie wollte Russisch lernen, zur Völkerverständigung beitragen. Daher nahm Ruth Paine eine junge Russin bei sich auf. Dass deren Ehemann Lee Oswald wenig später Präsident John F. Kennedy töten würde, konnte sie nicht ahnen. Auch nicht, dass er die Tatwaffe in ihrer Garage versteckt hatte
Das Letzte, was er ihr hinterlassen hat, war eine benutzte Kaffeetasse. Sie fand sie im Spülstein, als er schon fort war, früh um neun an diesem sonnigen 22. November 1963. Normalerweise war er ein Wochenendgast. Aber dieses Mal war er am Donnerstag gekommen. Erst hinterher hat sie begriffen, wieso. Um das Gewehr zu holen, das er in ihrer Garage versteckt hatte. Eine Mannlicher-Carcano, Seriennummer C 2766, eingewickelt in eine karierte Decke. Aber Ruth Paine wusste nichts von dem Gewehr.
Als sich die Nachricht vom Attentat auf John F. Kennedy über Amerika legte, als es im Fernsehen hieß, vermutlich sei aus dem sechsten Stock des Schulbuchlagers an der Dealey Plaza geschossen worden, fürchtete sie keinen Augenblick, Lee, der Mann ihrer Freundin Marina, könne etwas damit zu tun haben. Sie dachte nur, er würde ihnen später aus erster Hand berichten.
ABER LEE HARVEY OSWALD kam nie zurück in ihr Haus. Stattdessen klingelten um halb vier am Nachmittag die Polizisten Stovall und Rose. Drei weitere Beamte sicherten den Hintereingang. Die Männer begannen, kistenweise Zeug aus dem Haus zu schleppen: Kameras, Filme, Medikamente, einen Kompass, Wörterbücher, Messer, Briefe. Irgendwie schien alles verdächtig in diesem Haushalt, in dem zwei Frauen mit vier kleinen Kindern lebten und sich auf Russisch unterhielten, der Sprache des Feindes. Noch im Auto, auf dem Weg zur Polizei, fragte einer der Beamten: "Sind Sie Kommunistin?"
Es war auf den Tag neun Monate her, dass Ruth die beiden Oswalds kennen gelernt hatte, auf einer Party in Dallas. Sie ging sonst wenig aus, aber ein Freund hatte ihr erzählt, dass einige Russen kommen würden. Ruth hatte vor Jahren begonnen, die Sprache zu lernen. Es war alles, was sie gegen den Kalten Krieg tun konnte.
An diesem Abend war Lee Oswald von Zuhörern umringt gewesen. Der damals 23-Jährige war der Gast mit dem ungewöhnlichsten Lebenslauf. Ein Ex-Marine-infanterist, der 1959 als Kommunist in die Sowjetunion übergesiedelt und eben mit seiner russischen Frau in die Staaten zurückgekehrt war. Immer beobachtet vom FBI. "Es war sofort klar, wie sehr er es liebte, im Mittelpunkt zu stehen. Aber das Gespräch wurde schwierig, wenn man nicht seine politische Meinung teilte", sagt Ruth. Man habe seinen unbändigen Ehrgeiz gespürt, seine Frustration, seine Anspannung. Er war ihr unsympathisch.
Umso lieber mochte sie Marina, seine Frau, die sich in einer Ecke um die einjährige Tochter June kümmerte. Marina war 21 damals, Ruth 30. Sie trafen sich bald regelmäßig. Ruth lebte mit zwei Kleinkindern in Irving, einem Vorort von Dallas. Ihr Mann Michael hatte sie kurz zuvor verlassen. Sie sehnte sich nach jemandem, mit dem sie reden konnte.
Im Mai zog Marina für ein paar Tage zu ihr, im vierten Monat schwanger. Oswald suchte in New Orleans Arbeit. Marina war froh, dass er fort war. Wenige Wochen zuvor, am 10. April, hatte er versucht, einen rechtsextremen General zu erschießen, Edwin Walker. Er hatte ihn zwei Monate lang observiert und den Mord genau geplant. Marina erfuhr davon erst am Tag des missglückten Anschlags. Lee hatte ihr einen Brief hingelegt, für den Fall, dass er nicht wiederkäme. Er hatte aufgeschrieben, wo der Schlüssel fürs Postfach sei, dass die Miete für den nächsten Monat bezahlt sei und wo sie das Gefängnis finde. Aber niemand kam ihm auf die Spur.
ZEHN TAGE NACH seiner Ankunft in New Orleans rief Lee an, er habe einen Job. Ruth fuhr Marina und June zu ihm. In den kommenden Monaten schickten sich die beiden Frauen Briefe. Nachdem Ruth über ihre Trennung von Michael geklagt hatte, antwortete Marina am 5. Juni: "Mit mir und Lee ist es genauso. Er hat klar gemacht, dass er nicht mit mir leben will. Aber er will sich nicht scheiden lassen, sondern ich soll zurück in die Sowjetunion. Das will ich nicht. () Du bist jedenfalls nicht die Einzige, die zurückgewiesen wird. In mancher Hinsicht sind wir Freundinnen im Unglück."
Am 14. Juli schrieb Ruth, wenn Marina zu ihr ziehen wolle, würde sie ihr zehn Dollar pro Woche geben. "Für Briefmarken, Kleider etc." Lebensmittel und Arztbesuche würde sie ohnehin zahlen. "Du ahnst gar nicht, wie sehr ich davon profitieren würde. Ich könnte endlich die russische Sprache lernen. () Ich warte ungeduldig auf Nachricht, Ruth."
Am 20. September fuhr sie nach New Orleans, um Marina zu holen. Diesmal erlebte sie Lee nicht mehr so verschlossen. Er schien dankbar, dass sie sich um seine hochschwangere Frau kümmerte. Abends wusch er ab, sie und Marina gingen aus. Nach drei Tagen fuhren die Frauen nach Texas. Lee hatte beim Packen geholfen. Heute vermutet Ruth, dass er auch das Gewehr in ihren Kofferraum gelegt hat.
Anfang Oktober kehrte Lee zurück nach Dallas. Er nahm sich ein Zimmer im Zentrum, für acht Dollar die Woche, an den Wochenenden besuchte er Marina. Dann waren sie zu sechst in dem kleinen Haus mit vier Zimmern. Die Garage hatten sie zum Speicher umfunktioniert, der Wagen stand in der Einfahrt.
Lee war ein ruhiger Gast. Meist sah er fern. Nachmittags Football, abends Spielfilme. "Er war immer sauber, immer korrekt, sagte "Sir` und "Madam`." Unsicher sei er gewesen. "Er hatte immer Angst, zurückgewiesen zu werden." Ruth vermied es, mit ihm über Politik zu reden, sie wollte keine Spannungen. Er habe ohnehin nicht viel mit ihr gesprochen. Schon gar nichts Persönliches. Nur einmal habe er sie überrascht. "Er erwähnte meine bevorstehende Scheidung und sagte: "Das alles muss sehr schwer für Sie sein.`"
Am 14. Oktober schrieb Ruth ihrer Mutter, Lee sei ein Gewinn für ihren Haushalt. Er habe mit ihrem Sohn gespielt und eine Tür repariert. "Er ist das männliche Element, das uns fehlte." Tags zuvor hatte sie ihm die erste Fahrstunde gegeben, in ihrem Chevrolet. Sie übte mit ihm auf leeren Parkplätzen. Starten klappte, aber wenden und parken konnte er nicht. Während sie alleine im Auto saßen, redeten sie Englisch. Vor Marina hatte er das immer abgelehnt, er wollte nicht, dass seine Frau die Sprache ihres neuen Landes lernte.
Ruth sprach mit einer Nachbarin über Lees vergebliche Jobsuche. Die sagte, ihr Bruder arbeite im Schulbuchlager in der Innenstadt, dort brauche man vielleicht noch jemanden. Ruth rief den Direktor an. Und der sagte, klar, schicken Sie ihn vorbei. Er bekam den Job. Alles schien gut zu werden. Am 16. Oktober begann Lee mit der Arbeit im Gebäude an der Dealey Plaza. Zwei Tage später war sein Geburtstag, Ruth und Marina erwarteten ihn mit einer Torte. Wieder zwei Tage später gebar Marina ihre Tochter Rachel. Im Parkland Hospital, dem gleichen, in dem vier Wochen später John F. Kennedy und Lee Harvey Oswald sterben sollten.
Drei Tage vor dem Attentat entdeckte Ruth, dass Lee sein Zimmer in Dallas unter falschem Namen gemietet hatte. Und bei ihr war zum zweiten Mal ein Mann vom FBI gewesen und hatte nach Marinas Mann gefragt. Sie begann, sich zu wundern: Wer war Lee? Sie überlegte kurz, ob er vielleicht Geheimagent sei. Kam aber zum Schluss, dass er dafür nicht intelligent und nicht organisiert genug sei.
Bis zum letzten Moment war nicht klar gewesen, welche Route der Präsident durch Dallas nehmen würde. Am Mittwoch, dem 20. November, wurde die Strecke in der Zeitung abgedruckt. "Ich denke, er hat wirklich erst da den Plan gefasst, ihn zu erschießen. Als klar war, die Autos würden an seinem Arbeitsplatz vorbeifahren. Am Donnerstagnachmittag bat er dann unseren Nachbarn, ihn mit zu uns zu nehmen. Er sagte ihm, er wolle in meinem Haus Vorhangstangen abholen."
RUTH PAINE GLAUBT NICHT, dass es Oswald um Kennedys Person ging: "Höchstens um das Amt an sich. Es sollte etwas Großes sein." Er wollte irgendetwas tun, was die Welt nicht vergessen würde. Und jetzt bot sich die Gelegenheit.
Am Nachmittag, als Ruth nach Hause kam, standen Lee und Marina unter der Eiche im Vorgarten und spielten mit ihrer Tochter June. Marina entschuldigte sich, dass Lee so unangemeldet aufgekreuzt war. "Nasch President prijesschajet w gorodu", sagte Ruth fröhlich: Unser Präsident kommt in die Stadt. Sie verehrte Kennedy sehr, hatte auch überlegt, ob sie mit Marina in die Stadt fahren sollte, um ihm zu winken, glaubte aber, es würde zu voll werden dort. Lee antwortete nichts und trug ihr die Einkäufe ins Haus. Auch früher hatte er nie irgendetwas zu ihr über den Präsidenten gesagt.
Still war er am Abend, aber das war er oft. Er ging als Erster zu Bett, gegen neun. Ruth hatte noch etwas in der Garage zu erledigen und bemerkte, dass die Lampe brannte. Lee musste hier gewesen sein, dachte sie, Marina ließ das Licht nie an.
Als Lee am Morgen ging, trug er ein langes Paket ins Auto des Nachbarn - die vermeintlichen Vorhangstangen. Marina hatte er fast sein ganzes Geld dagelassen. Dazu schrieb er einen Zettel, dass June neue Schuhe brauche. Seinen Ehering tat er in eine kleine Dose, die Marinas Großmutter gehört hatte. "Fast so, als hätte er geahnt, dass er getötet würde."
50 MINUTEN nach Kennedys Tod wurde Oswald verhaftet. Das Gewehr fand die Polizei zwischen Kisten im sechsten Stock des Schulbuchlagers. Kurz danach standen die Polizisten Stovall und Rose vor Ruths Tür und fragten, ob Lee ein Gewehr habe. Sie übersetzte die Frage, und zu ihrem Entsetzen sagte Marina sofort ja und führte die Männer in die Garage. Dann deutete sie auf die grünbraune Rolle neben der Werkbank. Als die Polizisten sie anhoben, merkten sie, dass sie leer war. In dem Moment verstand Ruth, dass sie nicht nur Lee Oswald nicht kannte, sondern auch ihre Freundin nicht.
Am kommenden Tag rief Lee aus der Haft bei Ruth an. Ob sie ihm helfen könne, einen bestimmten Anwalt zu finden. Sie versuchte es vergebens. Marina wurde zu der Zeit schon vom Secret Service befragt. Sie kam nicht mehr zurück. Ruth übermittelte ihr Nachrichten, schrieb ihr, immer wieder - eine Antwort erhielt sie nie. Sie schickte Pakete durch die Polizei. Einmal gab sie den Beamten dann eines von Marinas russischen Büchern mit. Was sie nicht wusste: In diesem Buch hatte Marina ein Papier versteckt - Lees Brief, den er geschrieben hatte, bevor er losging, um Walker zu erschießen. So gelangte der Zettel in die Hände der Warren-Kommission, die den Kennedy-Mord untersuchte - und so erfuhr auch Ruth von seinem Inhalt.
Einmal haben Ruth und Marina sich noch gesehen. Im März 1964, nach der Anhörung vor der Warren-Kommission. Seither gab es keinen Kontakt. Der Kommission gegenüber bezeichnete Ruth es als "moralisches Versagen", dass Marina ihr Wissen nicht mit ihr oder sonst jemandem geteilt habe - das einzige Mal, dass sie ihre Freundin kritisierte.
Dass Lee von Jack Ruby erschossen wurde, hatte sie live im TV gesehen. Was sie dabei empfand, beschreibt sie heute als "gewisses Maß an Erleichterung. So wurde ein Kapitel geschlossen, das noch viel länger eine schreckliche Wunde hätte sein können." Das Ende des Satzes bröckelt weg, dann fließen die Tränen. Nichts ist abgeschlossen.
Die Warren-Kommission kam zum Schluss, dass Lee Harvey Oswald den Präsidenten ermordet und dass er allein gehandelt hat. Ruth Paine war die wichtigste Zeugin. Auch all ihre Freunde wurden befragt, selbst flüchtige Bekannte. Ob Lee von ihrem Haus aus telefoniert habe? Leute getroffen habe? Ob sie wusste, dass er ein Postfach hatte? Nein, nein, nein, sagte Ruth. Was er üblicherweise gefrühstückt habe? Kaffee und ein süßes Brötchen.
Die Ergebnisse der Warren-Kommission sind umstritten, zumal CIA und FBI dem Gremium Akten vorenthielten. Hunderte Autoren haben seither versucht zu klären, was geschehen ist am 22. November 1963. Auch Ruth Paines Rolle wurde immer wieder hinterfragt. War sie Teil eines Komplotts? Wer könnte hinter ihr gesteckt haben? Die CIA, das FBI, der KGB, die Mafia, Castro, die Exil-Kubaner?
In "JFK", dem Film von Oliver Stone, wird sie als Komplizin dargestellt. Nur wegen dieses Films redet sie heute doch ab und zu mit Journalisten. Weil sie nicht will, dass nachfolgende Generationen nur die Hollywood-Version kennen. "Der Film ist ein Haufen Lügen. Wenigstens haben sie meinen Namen nicht verwandt." Im Film heißt sie Janet.
Von Jim Garrison, dem Staatsanwalt aus New Orleans - im Film Kevin Costner - wurde sie tatsächlich verhört. "Er wollte unbedingt, dass ich ihm etwas liefere, das eine Verbindung zwischen Oswald und irgendwelchen anderen Leuten beweisen könnte. Und ich konnte nur sagen, ich sah ihn immer vor dem Fernseher. Für Garrison war ich eine Enttäuschung."
Ruth Paine ist heute 71. Das Älteste an ihr ist die Stimme. Die kippt, sobald man sie bittet, über den November 1963 zu sprechen. Sie hat Texas wenige Jahre nach dem Mord verlassen, wurde Direktorin einer Schule in Philadelphia. Heute ist sie pensioniert und lebt in St. Petersburg, Florida. Im Garten ihres Bungalows steht ein Schild mit Friedenstaube. "Vor einer Weile war ein Reporter aus Dallas da. Er fragte: "Sind Sie ein Peacenik`? Das Wort habe ich seit Jahrzehnten nicht gehört", sagt sie, und man hört zum ersten Mal dieses Kichern. Ein hohes, mädchenhaftes Giggeln, das so gar nicht zu passen scheint. Zu ihrem tieftraurigen Gesicht und dem immer durchgedrückten Rücken.
IHR HAUS IST BESCHEIDEN möbliert, mit lateinamerikanischer Folklore an den Wänden. Sie sammelt Spenden für Frauen und Kinder aus Nicaragua. Statt Russisch kann sie nun fließend Spanisch. Ihre alte Lieblingssprache hat sie bewusst vergessen, seit 40 Jahren. So wie sie nach ihrem Auszug auch nie wieder in Irving war. Einige Bücher hat sie über das Attentat gelesen, die, die ihr seriös erscheinen.
Marina Oswald hat zwei Jahre nach dem Attentat einen Zimmermann geheiratet, Kenneth Porter. Sie trägt seinen Namen und lebt außerhalb von Dallas. Vor einigen Jahren sagte sie einem Reporter, sie glaube nun auch an eine Verschwörung. Lee sei vielleicht beteiligt gewesen am Attentat, aber niemand könne sagen, ob er der Todesschütze gewesen sei.
Ruth Paine denkt nicht, dass sich Marina noch einmal bei ihr melden wird. "Ich glaube auch nicht, dass wir irgendetwas tun könnten, um die Traurigkeit zu überwinden." Und jetzt, da Marina sagt, sie glaube nicht mehr an Lees Schuld, hätten sie sich wohl noch weniger zu sagen. "Ich hatte sie für intelligenter gehalten. Aber natürlich ist es angenehmer, nicht zu denken, dass der Ehemann den Präsidenten getötet hat."
Jahrelang hat Ruth Paine sich gequält. "Ich wünschte, ich hätte erkannt, dass er gefährlich ist", sagt sie. Was, wenn sie nie Russisch gelernt hätte, die Oswalds nie getroffen hätte, er die Waffe nicht bei ihr versteckt hätte, sie ihm nicht den Job im Schulbuchlager besorgt hätte - würde der Präsident dann noch leben? Sie versucht, die Fragen zu verdrängen. "Es ist eine Verschwendung emotionaler Energie." Aber ein diffuses Gefühl von Schuld bleibt. "Irgendwie scheine ich mich davon nicht zu erholen. Es ist der schmerzhafteste Teil meines Lebens."