Viel schlechter als jetzt, wenige Monate vor der nächsten Präsidentenwahl am 3. November, könnten die USA kaum dastehen. Die Coronakrise - nicht im Griff, die Infiziertenzahlen explodieren; die Wirtschaft - am Boden, Millionen Menschen sind arbeitslos; das Land - im Aufruhr, fast täglich gibt es (teils gewalttätige) Anti-Rassismus-Demonstrationen in den großen Städten. Der Präsident - weitgehend tatenlos, stattdessen aggressiv und spalterisch wie eh und je. Hat Donald Trump die Wahl im November etwa schon verloren gegeben?
Wohl kaum. Unter Experten in den USA, aber auch im Ausland, läuft vielmehr eine Debatte, dass hinter dem fehlenden Krisenmanagement des Präsidenten eine perfide Absicht steckt. Die Absicht, die Lage im Land so weit eskalieren zu lassen, dass das allgemeine Chaos als Grund herhalten kann, die Macht auf keinen Fall abzugeben. "Ich male mir nicht aus, dass sich Trump im Oval Office hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert, umgeben von ein paar letzten Getreuen und loyalen Secret-Service-Agenten", sagte unlängst der US-Jurist und Buchautor, Lawrence Douglas, in einem Interview mit der "Zeit" zum Wahlausgang im November. Andererseits ist "schwer vorstellbar, dass Trump (...) einfach so mit dem Hubschrauber entschweben würde wie seinerzeit Nixon", so der USA-Experte Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zum stern schon während des für Trump letztlich erfolgreichen Impeachment-Verfahrens.
Lässt Donald Trump die USA wirklich ins Chaos stürzen, um seine Macht unabhängig vom Ausgang der Wahl im November zu sichern? Diese Indizien sprechen dafür:
1. Donald Trump lässt Corona gewähren
Mit dem "unsichtbaren Feind", dem Corona-Virus, hat sich Trump von Anfang an schwer getan. Spätestens seit seine Heimatstadt New York zeitweise zum weltweiten Corona-Hotspot wurde, wurde offensichtlich, dass er als Krisenmanager versagt hat. Inzwischen ist Trump dazu übergegangen, die Pandemie zu leugnen - zumindest nach außen hin. Während inzwischen wieder Infektionszahlen wie zum Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr gemeldet werden und einige besonders stark betroffene Staaten von den auch von Trump forcierten Lockerungen der Corona-Einschränkungen abrückten, spricht der Präsident auf Twitter davon, dass es nicht so hohe Zahlen gäbe, würde einfach weniger getestet.
Nur scheinbar eine Vogel-Strauß-Politik, nimmt Trump doch andererseits ein Ansteigen der Infektions- und Todeszahlen offensichtlich billigend in Kauf. So machte er schon seit jeher auf die Gouverneure Druck, die Corona-Maßnahmen in den Bundesstaaten zugunsten der Wirtschaft zu lockern - ungeachtet der Infektionszahlen. Und: "Er sagt, die Leute sollen zu Wahlkampfveranstaltungen kommen, sie sollen Kirchen füllen, sie sollen zu Sportveranstaltungen gehen und die Schulen sollen aufmachen - und zwar in Hotspots", berichtete die in New York lebende deutsche Juristin und TV-Finanzexpertin Sandra Navidi in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz". Dazu weigere er sich, Schutzmasken zu tragen und wolle in seinem direkten Umfeld auch niemanden mit Maske sehen (Secret-Service-Mitarbeiter wurden nach dem Wahlkampf-Auftritt in Tulsa vorsorglich in Quarantäne geschickt). Geht es so weiter, steuern die USA direkt in ein medizinisches Chaos.
2. Politische Gegner werden als radikal diffamiert
Seit Beginn seiner Amtszeit verschiebt Trump die Grenzen des Sagbaren. In jüngster Zeit wird seine Rhetorik zunehmend schriller, bisweilen wirkt sie hysterisch. Einige politische Beobachter in Washington wollen darin erkennen, dass Trump seine Felle davon schwimmen sehe. Die andere Interpretation: Der Präsident stimmt die Nation und vor allem seine Anhänger darauf ein, dass man das Land auf keinen Fall dem politischen Gegner überlassen dürfe - womöglich mit dem unausgesprochenen Zusatz "koste es, was es wolle".
Dass er seinen mutmaßlichen Herausforderer Joe Biden durchweg als "Sleepy Joe" beleidigt und sich wiederholt über ihn lustig macht, kann man noch als Wahlkampf-Folklore verbuchen. In jüngster Zeit aber benutzt er das Wort "Demokraten" kaum noch ohne den Zusatz "radikal". Beim Wahlkampfauftritt in Tulsa beispielsweise schob er die Anti-Rassismus-Proteste in Seattle, bei denen Demonstranten eine "autonome Zone" eingerichtet hatten, dem politischen Gegner in die Schuhe. Vor allem tönte er, er wolle den Konflikt nicht etwa befrieden, sondern "die Sache noch ein wenig köcheln lassen. Lasst die Menschen sehen, was radikale linke Demokraten unserem Land antun werden". In einem anderen Fall rückte Trump Demonstranten, die Denkmäler von Konföderiertengenerälen schleifen wollten, kurzerhand in die Nähe von "Terroristen" und stellte den "Vandalismus" in einem am Samstag erlassenen Dekret kurzerhand unter schwere Strafen. Zwischen den Zeilen dröhnt geradezu die rhetorische Frage an seine Anhänger: Wollt ihr wirklich das Land radikalen Linken und Terroristen überlassen?
3. Rassismus: Kein Versuch der Deeskalation
"Brandschatzer, Anarchisten und Plünderer": Das sind die Worte, die Trump für die Teilnehmer an den Anti-Rassismus-Protesten findet, die seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd während eines brutalen Polizei-Einsatzes in Minneapolis die gesamten USA in Aufruhr versetzen wie seit vielen Jahren nicht. Floyds Angehörigen kondolierte er noch, doch Trump zeigte seit dem erneuten Aufflammen der Rassen-Konflikte nie ein Interesse daran, die Lage zu befrieden. Nicht mal zu symbolischen Akten war er bisher bereit. Als vor zwei Wochen die Idee entstand, umstrittene Namen von US-Militärbasen umzubenennen, wies Trump den Gedanken brüsk zurück. Seine Regierung werde nicht einmal darüber nachdenken, diesen "heiligen Stätten" einen anderen Namen zu geben, twitterte der 74-Jährige.
Trump begreift die Demonstranten stattdessen pauschal als bloße Randalierer und setzt deshalb auf Law and Order, was er für alle Welt sichtbar durch den verstörenden PR-Auftritt vor einer Kirche unweit des Weißen Hauses dokumentierte, indem er für diesen profanen Zweck friedliche Demonstranten von Polizeikräften aus dem Weg räumen ließ. Ein Auftritt, der selbst bei seiner Klientel auf Kritik stieß, die grundsätzlich Trumps Haltung zu den Protesten dennoch weitgehend tragen dürfte. Doch selbst mit diesem Ansatz des harten Durchgreifens scheint es dem früheren Immobilien-Magnaten nicht allzu ernst zu sein. Noch am Freitag verkündete er, auf seinen Wochenendausflug in seinen Golf-Club in New Jersey zu verzichten, um in Washington für Recht und Ordnung zu sorgen, am Samstag machte er sich dennoch zu seinem Golfclub im Ort Sterling im angrenzenden Bundesstaat Virginia auf, wie mitreisende Journalisten berichteten.
4. Wahlen und Wahlverfahren werden in Zweifel gezogen
"Trump legt eine Lunte an ein explosives gesellschaftliches Gemisch, indem er das in Corona-Zeiten nötige Briefwahlverfahren diskreditiert", beleuchtet USA-Experte Braml in einem Interview mit dem News-Portal "Watson" einen weiteren Aspekt. "Die Briefwahl nutzt den Demokraten, deshalb attackiert er sie", ergänzt Lawrence Douglas. Seit Monaten diskreditieren Trump und andere Republikaner Briefwahlen, indem sie sie praktisch als Methode zum Wahlbetrug hinstellen. Belege dafür gibt es Experten zufolge nicht; jedenfalls nicht für die Möglichkeit eines Betrugs in so großem Stil, dass sie die Gültigkeit der gesamten Wahl infrage stellen könnte. Trotzdem führen die Republikaner Prozesse gegen die Zulassung der Briefwahl - und Trump hängt das Thema in einem Interview mit dem Portal "Politico" besonders hoch: "Sollten wir diese Klagen nicht gewinnen, dann denke ich, dass das die Wahl gefährdet."
"Trump legt also schon heute das Fundament, um nach der Wahl im November die Ergebnisse anfechten zu können", analysiert Lawrence Douglas. Finanzexpertin Navidi hält es sogar für möglich, dass Trump die Wahlen komplett aussetzen könnte. Ähnliche Befürchtungen hatte auch Joe Biden schon geäußert, Trump hatte das dementiert und konstatiert, er "freue sich auf die Wahl". Doch seither eskalieren die Corona-Zahlen wieder. Navidi glaubt, dass Trump mit dem Hinweis auf zu viele Erkrankte, die nicht an der Wahl teilnehmen könnten, den Urnengang daher dennoch aussetzen könnte. Zudem sei in etlichen Bundesstaaten, die republikanisch dominiert seien, schon seit langem zu beobachten, wie Wahlkreise so zugeschnitten würden, dass eine Mehrheit durch Stimmen Schwarzer und Latinos kaum noch zu erreichen seien. "Wahllokale werden geschlossen", so Sandra Navidi, bei Vorwahlen sei zu beobachten gewesen, dass Wahlberechtigte bis zu acht Stunden hätten anstehen müssen.
USA: Nicht friedliche Amtsübergabe nicht vorgesehen
Trump lässt das alles geschehen, bemüht sich weder um Abhilfe noch um Deeskalation. "Welche Schlussfolgerung soll man daraus ziehen?", fragte Sandra Navidi bei "Lanz". Eine Eskalation der Lage biete Trump die Gelegenheit, sein gescheitertes Krisenmanagement zu überspielen und "sich als Oberbefehlshaber zu gerieren, der für Recht und Ordnung sorgt", analysiert DGAP-Experte Braml im "Watson"-Interview. Gleichzeitig halte der Machthaber im Weißen Haus Verschwörungstheorien lebendig, wonach der sogenannte "Staat im Staate" - im Klartext: die Geheimdienste - ihn loswerden wollten. Schon während des Impeachments hätten "seine treuesten Anhänger" deshalb offen damit gedroht, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Braml: "Die würde er wohl auch bei einer knappen Wahlniederlage auf die Barrikaden schicken."
Eine gewalttätige Blockade der Machtübergabe? Lawrence Douglas hält das durchaus für möglich. Vor allem, weil das US-System eine strittige Machtübergabe praktisch nicht vorsehe. Die US-Verfassung gehe davon aus, "dass es gut läuft", so Douglas im "Zeit"-Interview. Ein existierendes Gesetz für den Streitfall sei so widersprüchlich, "dass es mehr Probleme schafft als löst." Der Jura-Professor malt den Teufel an die Wand für den Fall, dass zwei Kandidaten sich zum Präsidenten erklären sollten. Die Situation müsse dann rasch geklärt werden, schon wegen des Oberbefehls über das US-Militär. Die Armee könnte im schlimmsten Fall sogar selber entscheiden müssen, von wem sie sich befehligen lässt. Eine düstere Vision. "Wir hatten noch nie einen Präsidenten, der die Regeln des Systems so wenig akzeptiert hat wie Donald Trump, der sie sogar aggressiv ablehnt." Ob er soweit gehen würde, das Land aus Machtkalkül in eine Staatskrise zu stürzen, wird sich im November zeigen.
Trumps gelegentliches Kokettieren, es sei doch vorstellbar, dass man ihn nach seiner zweiten Amtszeit bitten werde weiterzumachen, macht Experten angesichts all' dessen zusätzlich Sorgen. Die Möglichkeit einer dritten Amtszeit existiert in der US-Verfassung nicht.
Quellen: Nachrichtenagentur DPA, "Zeit", ZDF, "Politico", "Watson", CBSN, "The Hill", "Frankfurter Rundschau", Twitter/Donald Trump