Seit zwölf Jahren beginnt für Millionen von Menschen der Tag mit dem Satz "Guten Morgen, hier spricht Dozhd" – in Russland, in der Ukraine, in Kasachstan, im Baltikum und auch in Deutschland. Es war Dozhd, der als einziger russischer TV-Sender über die Massenproteste nach den russischen Parlamentswahlen 2011 berichtete. Es waren Dozhd-Reporter, die 2014 auf dem Maidan standen und Kugelhageln trotzten. Es war Dozhd, der der russischen Opposition eine Stimme in der Öffentlichkeit gab. Und es war Dozhd, der in den letzten Wochen dem Kreml die Stirn bot und den Ukraine-Krieg als das zeigte, was es ist: als Krieg.
In den letzten Monaten ist Dozhd zu einem der wichtigsten russischen Medien geworden. Als der Krieg in der Ukraine begann, den die russischen Behörden perfide als "militärische Spezialoperation" bezeichnen, sahen allein auf YouTube 25 Millionen Menschen, wie die "Friedenstruppen" Putins die Ukraine in ein Feld aus Leid und Schmerz verwandelten – und das jeden Tag.
Dozhd, das war eins der letzten Schaufenster in ein Land, das unaufhaltsam in Düsternis versinkt. Nicht nur für die russische Bevölkerung, sondern auch für die ganze Welt. Dozhd hob den informativen eisernen Vorgang an, den der Kreml über Russland verhängt. Bis jetzt.
"Ein Teil meiner Seele ist gestorben"
Am Donnerstagabend wurde der Vorhang zugezogen: "So eine schwere Entscheidung mussten wir in unserem Leben noch nie treffen. Wir haben für uns entschieden, dass wir vorerst die Arbeit des Senders einstellen", verkündete Natalja Sindejewa, Generaldirektorin von Dozhd, mit Tränen in den Augen die Hiobsbotschaft. "Wir brauchen jetzt Kraft und etwas Zeit, um auszuatmen und zu verstehen, wie wir weiterarbeiten können."

Es soll nur ein zwischenzeitlicher Sendungsstopp sein. Und doch ist allen in diesem Augenblick klar, dass die Pause eine lange werden könnte. Hinter Sindejewa stehen die Mitarbeiter des Senders und können die Tränen kaum zurückhalten. Die Zuschauer weinen mit ihnen. "Ein Teil meiner Seele ist gestorben", schreibt jemand während der vorerst letzten Live-Übertragung.
Vor die Wahl gestellt zu lügen oder zu schweigen, entscheidet sich Dozhd für das einzig Richtige
Am Freitagmorgen verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das bis zu 15 Jahren Haft für das Verbreiten von angeblichen Falschmeldungen über die "Aktivitäten der militärischen Kräfte Russlands" vorsieht. Was aber Fake ist, bestimmt der Kreml. Als Fake gilt auch die Bezeichnung Krieg. Während Putins Truppen ukrainische Städte bombardieren, hat der Kreml in der Heimat eine zweite Front eröffnet: Unabhängige Medien sind hier der Feind.
Das neue Gesetz verpflichtet sie zu Lügen. Vor die Wahl gestellt, zu lügen oder zu schweigen, entscheidet sich Dozhd für das einzig Richtige. Es ist ein verzweifelter Akt von Partisanen, die lieber in den Tod gehen, als zu Gehilfen eines blutigen Regimes zu werden. Es ist ein ehrenhaftes Ende. Hoffentlich kein endgültiges. Die Welt ist ohne Dozhd zu düster. Regen bedeutet der Namen des Senders auf Deutsch. Der Wunsch nach Regen war kaum jemals größer als jetzt.