Der Blitzsieg über die Ukraine, den Wladimir Putin in seinem Kopf bereits für das vergangene Wochenende vorgesehen hatte, ist eine Fantasie geblieben. Die ukrainische Armee und auch die Zivilbevölkerung leisten weiter erbitterten Widerstand, der immer mehr Opfer unter den russischen Soldaten fordert. Aber es ist nicht nur die Gegenwehr der Ukrainer, die einen schnellen Sieg verhindert, sondern offenbar auch der desolate Zustand der russischen Armee.
"Die Moral ist niedrig, nichts wurde organisiert, Soldaten wollen nicht kämpfen und geben ihre Ausrüstung bereitwillig auf", fasst der Militär-Experte Michael Kofman die Lage zusammen. Kofman ist Forschungsprogrammleiter der Russlandstudien am CNA, einem von der US-amerikanischen Regierung geförderten Forschungs- und Entwicklungszentrum der US Navy und des US Marine Corps. Seine Forschung konzentriert sich auf Russland und die russischen Streitkräfte.
Der Zustand der russischen Armee ist desastös und das sei alles andere als Zufall, sagt der ehemalige Weggefährte Putins, Sergei Pugatschow. Der Kreml-Chef habe aus Angst vor dem eigenen Militär in den letzten 20 Jahren die Armee bewusst in den Ruin getrieben, erklärte er im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitrij Gordon.
In den 1990er Jahren gehörte Pugatschow zum engen Kreis des ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, leitete unter anderem seine Wahlkampfkampagne im Jahr 1996 und war auch an der Machtübergabe an Putin beteiligt. Pugatschow galt einst als "Bankier und Kassenwart des Kremls". Einst hatte er eines der erfolgreichsten Bankunternehmen in Russland aufgebaut, agierte fast zehn Jahre lang als Senator der kleinen Teilrepublik Tuwa an der mongolischen Grenze und wurde noch 2008 in Geheimdienstkreisen als ein Mann mit "engen Verbindungen zu Putin" angesehen. Im Januar 2011 setzte er sich jedoch ins Ausland ab, nachdem der Oligarch wegen Betrugsverdachts und Unterschlagung von staatlichen Finanzhilfen unter Beschuss kam – wahrscheinlich weil er aber in Ungnade gefallen oder zu reich geworden war.

"Als Putin 2000 an die Macht kam, hat er umgehend den Verteidigungsminister ausgewechselt", erinnert sich Pugatschow heute. "Er berief Sergei Iwanow auf diesen Posten, einen korrupten, durchschnittlichen FSB-Mann, der keinerlei Führungskompetenzen besaß." Damit war der Stein zu einer 20 Jahre andauernden Praxis gelegt. Iwanow hatte sich zuvor als Putins Stellvertreter beim russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in den Augen des neuen Präsidenten bewährt. Als Putin ihn mit sich in die Regierung nahm, wurde Iwanow der erste Mann auf der Position des Verteidigungsministers, der nicht aus der russischen Militärelite stammte.
"Es ist kein Zufall, dass niemand in seinem Umkreis in der Armee gedient hat"
"Iwanow war ein Mann, der von der Armee absolut nicht respektiert wurde", sagt Pugatschow. Und das war der Hauptgrund für seine Berufung. "Putin hatte seit jeher Angst vor einer militärischen Verschwörung oder einem militärischen Sturz. Es ist kein Zufall, dass niemand in seinem Umkreis in der Armee gedient hat." Mit der Ernennung Iwanows habe Putin diese Gefahr umgehen wollen. Doch in der Folge sei die Armee einem vollkommenen Zerfall überlassen worden, erzählt der ehemalige Bankier.
Möbelhändler als Verteidigungsminister
2007 übernahm Anatoli Serdjukow den Posten des Verteidigungsministers, nachdem Putin Iwanow abberufen hatte. Doch dem Prinzip der Besetzung des Postens mit Männern ohne jegliche militärische Erfahrung blieb Putin treu. Nach Beendigung seines Studiums an der Hochschule für Sowjetischen Handel im damaligen Leningrad arbeitete Serdjukow zunächst bei einem örtlichen Möbelhändler. Im Jahr 2000 wechselte er in den Staatsdienst und nahm eine Stelle bei der Steuerinspektion an. Sein letzter Posten vor seiner Beförderung zum Verteidigungsminister war beim Föderalen Dienst für Steuern, zu deren Leiter Serdjukow im Juli 2004 ernannt worden war.
"Putin umgibt sich mit Leuten, die für ihn komfortabel sind. Serdjukow wurde von seinem Schwiegervater Wiktor Subkow in den Kreis von Putin gebracht. Putin begegnet Subkow mit großem Respekt", erklärt Pugatschow. 2007 bis Mai 2008 war Subkow Ministerpräsident. Während der Präsidentschaft Dmitri Medwedews war er ab 2008 Erster Stellvertretender Ministerpräsident.
"Als Serdjukow der Posten des Verteidigungsministers angetragen wurde, sagte er zu mir: 'Wie kann ich Verteidigungsminister sein, wo ich doch nur zwei Jahre lang in Moldawien als Chauffeur gedient habe.'" Serdjukow habe sich lange geweigert, am Ende habe ihn Putin aber überreden können. Als Begründung für seiner Ernennung habe der Präsident seine ökonomischen Fähigkeiten angeführt. "Ich brauche gar keine Armee. Die gehört in das vergangene Jahrhundert", habe Putin damals zu Serdjukow gesagt, berichtet der ehemalige Vertraute des Kreml-Chefs.
Die Ausschlachtung des Militärs
Was der Kreml-Herr brauchte, war nach der Darstellung seines ehemaligen Beraters die Umwandlung von militärischen Besitztümern in liquide Mitteln. Serdjukow sollte alles zu Geld machen, was sich zu Geld machen ließ. Die einzige Bedingung: Der neue Verteidigungsminister sollte nicht mehr als zwei Prozent aus den Verkäufen für sich behalten, erinnert sich Pugatschow. "Diese Episode demonstriert das Verhältnis Putins zur Armee. Er handelte nicht wie Hitler, der bereits 1933 das Militär aufzubauen begann. Im Gegensatz: Putin zerstörte die Armee."
Aktueller Verteidigungsminister Schoigu setzt die Tradition fort
2012 kam schließlich Sergei Schoigu auf den Posten, nachdem Putin Serdjukow entlassen hatte. Einem Unternehmen, das dem Verteidigungsministerium unterstellt war, wurde damals Veruntreuung in Höhe von 78 Millionen Euro vorgeworfen. "Er hat wohl mehr als zwei Prozent geklaut", witzelt Pugatschow über den ehemaligen Verteidigungsminister.

Der neue Verteidigungsminister war aber ebenso nach dem Geschmack von Putin. Schoigu klimpert für ihn bis heute mit all seinen Medaillen, die jeder Grundlage entbehren. Der gelernte Bauingenieur hat keinen einzigen Tag in der Armee gedient.
Nach 20 Jahren unter der Herrschaft Putin sehen wir eine absolut erniedrigte, demoralisierte, ausgeraubte Armee.
"Nach 20 Jahren unter der Herrschaft Putin sehen wir eine absolut erniedrigte, demoralisierte, ausgeraubte Armee. Sie war eine der Quellen zur Aneignung von staatlichen Finanzmitteln. Und Schoigu hat diese Aufgabe bis zum heutigen Tag mit Bravour gemeistert."
Das Ergebnis dieser Politik sehe man jetzt in der Ukraine, wo Panzer aus den 80er Jahren zum Einsatz kämen. Tatsächlich stammt der Großteil der Technik, die dort zum Einsatz kommt aus alten Beständen, höchstens mit einigen Modernisierungen versehen. Die russische Invasion entwickelt sich zu einem militärischen Fiasko. Aus einer Flut von Interviews Gefangener russischer Soldaten und Berichten ihrer Eltern geht hervor, dass die Truppen selbst keine Ahnung hatten, dass sie an einer Invasion beteiligt sein würden. Zudem mehren sich Berichte, dass den russischen Soldaten die Vorräte ausgehen – sowohl die Verpflegung als auch der Sprit für ihre Fahrzeuge. Anwohner der ukrainischen Städte und Dörfer berichten, dass die Soldaten bei ihnen an die Tür klopfen und faktisch betteln.
"Um die Ukraine einzunehmen, fehlen der russischen Armee das Können, die Technik und auch der Wunsch", sagt Pugatschow. "Wenn die Führung der russischen Armee tatsächlich den Wunsch danach hätte, würden sie anders vorgehen." Wie etwa in Syrien, wo Aleppo in Schutt und Asche gelegt worden war. "Aber die Armee ist dazu nicht bereit", ist sich der ehemalige Putin-Berater sicher. "Der Abstand zwischen Schoigu und den Generälen, die in Wahrheit die Armee befehligen, ist viel größer als der Abstand zwischen Schoigu und Putin, wenn sie an einem Tisch sitzen", bemerkt Pugatschow spitz und spielt damit auf den riesigen Tisch an, der den Verteidigungsminister von dem Präsidenten zu trennen pflegt.

"Wladimir Putin ist am Ende"
Dies sei auch der Grund, warum er sich den Einsatz von atomaren Waffen in der Ukraine nicht vorstellen kann. Selbst wenn Putin den entsprechenden Befehl erteilen würde, was sein ehemaliger Berater dem russischen Machthaber zutraut. "Die Generäle werden nicht bereit sein, einen Atomkrieg anzufangen", erklärt Pugatschow mit Nachdruck. "Putin ist am Ende. Putins Russland ist am Ende. Sein Russland wird nicht mehr existieren, dank der Ukraine".